Visionär ging es bei der Podiums-Diskussion zur Care-Arbeit der Zukunft und strukturellen Ungleichheit mit 7 Protagonistinnen in die Tiefe. Initiiert von den „Faces of Moms“ Gründerinnen, Soziologin und Fotografin Natalie Stanczak und Eventmanagerin Nicole Noller, blickten die Frauen ungefiltert auf ihre Mutterschaft und entwickelten konkrete Szenarien für eine verbesserte gesellschaftliche und politische Ausgangssituation – unter dem „Fürsorge“- Schirm des Augsburger Friedensfestes.
Nicht Unterschiede lähmen uns, sondern Schweigen
Audre Lorde
Die feministische Dichterin und Autorin Audre Lorde gab mit ihrem Zitat den aktiven Austausch für Bühne und Publikum frei. Philosophin und Moderatorin Melinka Karrer forderte Andrea Pfundmeier, Unternehmerin Boxscryptor und Mutter, Mareice Kaiser, Autorin, Journalistin und Mutter, Tamika Terry, Aktivistin und Mutter, Yassamin Sophia Boussaoud, Philosophin, Poetin und Mutter sowie die Veranstalterinnen Natalie Stanczak und Nicole Noller heraus.
Die Mutterschaft und folgende Aspekte standen im Raum:
Was ist Care Arbeit, was inkludiert sie und wer leistet Sie?
Wie definiert sich strukturelle Ungleichheit und was hat sie mit Mutterschaft zu tun?
Wie kann die Care Arbeit der Zukunft aussehen?
Klare Ideen, Wege und Perspektiven
Kein Jammern auf hohem Niveau, kein Mütterschimpf – sollte es den anwesenden Besucherinnen im Vorfeld mit der definierten Auswahl der Podiumsgäste nicht ersichtlich gewesen sein, stellte spätestens jetzt diese Fragestellung klar: Natalie Stanczak und Nicole Noller stellen die Diskussion auf ein soziologisch und philosophisch ausgerichtetes Plateau. Mit Gesprächspartnerinnen, die über mütterliche Erfahrungswerte hinaus, klare Schlüsse ziehen, Ideen entwerfen und zukünftige Handlungsfelder auftun.
Das Thema saß auf der Metaebene: nicht nur feministisch, sondern psychologisch, gesellschaftspolitisch und arbeitsmarktpolitisch verwurzelt.
Es ging um das analysierende Hinterfragen, um Definitionen von Begriffen, um gesellschaftliche Ideale und Rollenbilder, um visionäre Ideen und eine aktive Handlungsableitung – in Verbindung mit mütterlichen Persönlichkeitserfahrungen und Erlebniserzählungen.
Raum bieten, sensibilisieren und strukturelle Ungleichheit sichtbar machen
„Ich definiere strukturelle Ungleichheit im Sinne der Intersektionalität, dass sich die Lebenssituationen von Müttern auf vielen verschiedenen Ungleichheitsebenen stark unterscheiden, auf ökonomischer, kultureller Ebene aber auch hinsichtlich der sozialen Anerkennung und Chancen“, so leitete die Soziologin ein. „Jede Stimme ist es wert gehört zu werden, diesen Raum bieten wir Müttern auf unserer Plattform, in unserem Buch und in unserer aktuellen Ausstellung. Wir möchten auf strukturelle Ungleichheit gegenüber Müttern aufmerksam machen und für den Wert von Gleichberechtigung und Care Arbeit sensibilisieren. Das ist wertschöpfende Arbeit.“
Ein Fragerundenkorsett zu prägenden Aspekten der eigenen Kindheit, Wunschvorstellungen aus der Kindheit und Utopien bzw. Visionen verband die Einzelerlebnisse der Frauen mit dem Hintergrund der aktuellen politischen, gesellschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Rahmenbedingungen.
Kindliche Prägungen: Andersartigkeit, Einsamkeit, Berufstätigkeit, Sehnsucht und Trauma
Prägte Moderatorin Karrer als Kind stets die Zerrissenheit zwischen Chile und Deutschland und eine Sehnsucht nach der Heimat, so hinterließ bei Tamika das Gefühl, anders zu sein, Spuren. Für Sie gab es zuhause mit berufstätiger Mutter kein Mittagessen, sondern den Hort. Was andere Kinder cool fanden, „dass bei dir nie jemand zu Hause ist“, empfand das schwarze Kind als ein Stigma für Andersartigkeit und Ausgrenzung.
Klatschkolumnnistin Karla Kolumna – vollendet in der Folge „Bibi Blocksberg und der Weihnachtsmann“ – fräst sich in ihrer Rolle als starke, tatkräftige Frau, die beruflich stets unterwegs, in die kindliche Prägung von Mareice Kaiser, Autorin und Journalistin. Für die Tochter einer Hausfrau und eines Arbeiters standen das selbstbestimmte weibliche Rollenvorbild zugleich für Freiheit und die Zukunft.
„Meine Mutter war alleinerziehend und hat Vollzeit gearbeitet. Ich stellte mir als Kind immer vor, mein Leben lang nur Teilzeit zu arbeiten“, so kanalisiert eine Mutter aus dem Publikum ihre kindlichen Einsamkeitsgefühle. Andrea Pfundmeier, Gründerin und Unternehmerin mit 35 Mitarbeiter*innen, prägten Ihre Eltern vor allem in beruflicher Hinsicht. Sie engagierten sich viel beruflich, konnten das aber jederzeit flexibel gestalten. Zur Stolperfalle für die eigene Mütteridentität wird wiederum die Erfahrung der eigenen Kindheit für eine Mutter aus dem Publikum. „Alle Eltern waren beide bis 18 Uhr Vollzeit arbeiten und Kinder bzw. Schüler*innen wurden in der Schule beschäftigt, mit Essen aus der Kantine versorgt. Hier in Deutschland bin ich als Mutter für alles allein verantwortlich. Und ich frage mich: Wer sorgt sich?“, so bringt sie ihr derzeitiges Gefühl und Fragezeichen zum Ausdruck.
Aktivistin Yassamin Sophia Boussaoud, Tochter eines Afrotunesiers und einer deutschen Mutter, hat an ihre Kindheit in Bayern überwiegend schmerzliche oder gar traumatische Erinnerungen. „Ich war das einzige nicht-weiße Kind in der Schule. Es gab keinen Platz für mich.“ Nach dem jahrelangen Versuch dazuzugehören, übt sie sich nach einem Zusammenbruch mit Mitte 20 nun darin, sich nicht anzupassen.
Die Poetin stellt die These auf: „Das Verständnis von Familie hängt am Kapitalismus und ist nationalsozialistisch geprägt. Wir benötigen ein antikapitalistisches Bild von Familie. Das Aufbrechen dieser Mutterrolle ist schwer, da es gegen soziale Normen und Vorstellungen geht.“
Mütterliche Leitbilder versus Alltagsstruggle: „Scheißegal ist keine Option“
Mareice Kaiser, Autorin von „Das Unwohlsein der modernen Mutter“, appelliert daran geschlechtsoffenener zu diskutieren und revolutionäre Schritte auch an diejenigen mit Privilegien zu deligieren.
„Depressive Verstimmungen oder dieses Unwohlsein der Mütter entsteht vor allem durch traditionelle Rollenbilder und die konkreten, alltäglichen Belastungen in Kontrast zu einem idealisierten Leitbild.“ Ob die erwerbstätige Mutter, das Vorbild für die Kinder, die fürsorgliche Mutter, die Mom I’d like to fuck – Mutti wird es schon richten, so der Tenor der Autorin. Diese Polarisierung führe jedoch zu einem noch verstärkten Unwohlsein, prekäre Lebenssituationen und Armut würden den Stress noch kumulieren.
„Ich bin eigentlich nur hierher, in diese Stadt gekommen, um Heilung zu finden. Mit kaum
Gepäck. Ein paar Kisten Bücher, ein bisschen Kunst und einige Säcke voll Kleidung.
Mit diesem ziemlich gebrochenen Herzen und diesem Kopf, in dem es dieses Haus gibt, mit
Ratten auf dem Dachboden und Skorpionen auf den Fenstersimsen. @minaandherchaos
„Dem mütterlichen Weltschmerz mit – mir ist alles scheißegal – zu begegnen, ist keine Option“, belegt die Journalistin mit einer Studie. „Wir sind Teil einer Gesellschaft und wollen das trotz gesellschaftlichem Druck, Erwartungen, Klischees und Stereotypen auch bleiben“, zitiert sie.
Unterschiedlich in der Kindheit sozialisiert, geprägt und voller positiver bzw. negativer Vorerfahrungen, kombiniert mit persönlichen psychologischen oder resilienten Attributen, formen sich mütterliche Vorstellungen, Ideale oder Gegenentwürfe.
Gesellschaftliche Normative bestimmen das Mutter- und Rollenbild
Die Gesellschaft wirkt mit ihren arbeitsmarktpolitischen, kulturellen und sozioökonomischen Vorstellungen in diese hinein. Spätestens mit der Geburt des ersten Kindes setzt sie einen Rahmen für die erwünschte Mutterrolle und ihre eigene Entwicklung. Nach wie vor übernehmen Frauen weltweit den größten Anteil der Care-Arbeit. Wissenschaftlich belegt. Sie werden über die Mutterschaft und Kinder definiert – nicht selten führt das zu massiven Identitäts- oder Rollenkonflikten.
Die rhetorische Frage der Podiumsgäste war: „Warum wird man als Frau für die Entscheidung Kinder zu bekommen strukturell benachteiligt, egal welchen Weg man geht?“ „Care-Arbeit ist einfach keine romantisierte Arbeit, sondern wertschöpfende Arbeit“.
Struktureller Nachteil: ein Kind
„Care-Politik ist Zeitpolitik“ (Zitat Tessa Bücker) und diese Zeit sollte in politische Rahmenbedingungen eingebettet sein.“ so Natalie Stanczak Mutterschaft als politische Kategorie, also?
Yassamina, kurz Mina, merkte an: „Warum müssen marginalisierte Eltern den Mund aufmachen? Es ist wichtig anzuerkennen, dass es ein neues Verständnis des Anstands geben muss“. Solidarität wurde in diesem Zusammenhang laut. Kaiser forderte im Anschluss ein Aufstehen der weißen, privilegierten, heterosexuellen Männer, um eine Veränderung von der Wurzel (radix) her, also radikal anzustoßen.
Eine bequeme Ausgangsposition wird ungern ohne persönlichen Leidensdruck und starken Gegenwind aufgegeben, hat eine Psychoanalytikerin einmal zitiert.
Vor diesem Hintergrund frage ich mich persönlich, inwieweit (insbesondere kinderlose) Menschen, die sowohl gesellschaftlich als auch auf dem Arbeitsmarkt in der aktuellen Situation bevorteilt sind, solidarisch für Frauen und Mütter aufstehen werden? Anzustreben allemal.
Und die Zukunft – Radikale Revolution oder sensible Solidarität?
Die einzelnen Puzzlestücke aus persönlichen Erfahrungen, Studien und Zitaten aus dem Buch von Kaiser, zusammengetragen, ergaben gegen Ende der 2- stündigen Diskussion die ungeklärte Problematik der Zukunft: Wie kann Gleichberechtigung, Zeit und Fürsorge in Familien und in einer Gesellschaft so fair gestaltet werden, dass es allen Menschen gut geht und ein Leben mit Zeit möglich ist?
Eine Vision statt Utopie
„Es gibt einen Abschnitt in Antonia Baums Buch „Stillleben““ – warf Kaiser ein: „Ich will ein Mann sein, nicht zuständig, einfach weiterzugehen“. Als reale Option von der Podiumsdiskussion direkt mit einem augenzwinkernden Lacher vom Podium gewischt.
Wie die Beste aller Welten in Zukunft aussehen könnte? Die Stimmen der Podiumsgäste waren klar: Es müsse für politische Gleichstellung gekämpft werden und für die Geschichten und Lebensrealitäten der Mütter sensibilisiert werden. Strukturelle Probleme bedürfen struktureller Lösungen. Vor allem die politischen Rahmenbedingungen müssten ran, da diese aktuell immer noch ein traditionelles heteronormatives Familien- und Geschlechterbild stärken.
„Ich will meine Kinder ohne Diskriminierung, ohne Rassismus, alleinerziehend ohne Mental Load und Care Arbeit großziehen können.“
„Ich wünsche mir Menschen, die sich mitkümmern, mit viel Liebe und Zeit.“ „Ich möchte, dass wir in achtsamer Verantwortung zueinanderstehen.“ „Stichwort Inklusion: ein gutes Leben für alle“
„Ich bräuchte Menschlichkeit, Achtsamkeit und mehr Raum für eigenes Leben.“
„Wir sollten klar kommunizieren und Bedürfnisse kundtun – dann öffnen sich Türen – auch im Berufsleben!“
„Gegen Unterdrückung, Schwesternschaft, Patriarchat und Klasse.“ „Ich will sehen, niemand übersehen! Der andere stört immer!
Es war ein Austausch, der mannigfaltig, breit und inspirierend war. Das spiegelten die Faces of Moms Gründerinnen Natalie und Nicole in den ersten Statements nach der Veranstaltung bereits wider. Als ZuschauerIn fühlte man sich abgeholt, involviert und mit vielen bereichernden Aspekten und Perspektiven angefüttert.
Die Verschiedenheit der Anwesenden in der persönlichen Lebensgeschichte verband in der herausfordernden Problematik der Mutterrolle.
„Die Formen menschlicher Verblendung haben ein und dieselbe Wurzel: die Unfähigkeit Unterschiedlichkeit als dynamische Kraft zu erkennen, die bereichernd und nicht bedrohend ist“, Feministin Audre Lorde
Mareice Kaiser setzt damit den Schlusspunkt: „Freiheit“, wünscht sich Kaiser. „Ein freies, selbstbestimmtes Leben für alle, die Familie leben wollen.“ Ein Leben für Mütter und Väter aller Art soll das sein: „Ohne finanziellen Druck wegen der Erwerbsarbeit, ohne die Frage, ob eine Arbeitspause wegen eines Kindes deine Karriere gefährdet“, ohne Leistungsdruck und Konkurrenz zwischen „Müttern, zwischen Eltern, zwischen Menschen mit und ohne Kinder“.
Natalie und Nicole richteten in der Diskussion und richten in der Kampagne Faces of Moms, der Ausstellung im Anna Cafe und im Netz mit anderen feministischen Autorinnen, Influencerinnen und Mütterstimmen ihr Augenmerk auf ein hinkendes Thema, das in einer fairen und gleichberechtigten Gesellschaft und Politik des 21. Jahrhunderts schon lange keine Rolle mehr spielen dürfte. Aus diesem Grund. Nötig.
„Wir werden nicht sofort alles ändern können aber zumindest endlich anfangen Gespräche zu führen und zur Reflexion anregen. Denn nur so können wir unseren Kindern Alternativen mit auf den Weg geben und klassische Rollen mit neuen Inhalten füllen. Das ist nicht immer eine freie Wahl. Das geht nicht bei allen. Das ist klar. Und deshalb ist es umso wichtiger, dass wir hier den ersten Schritt machen, dass wir alle Mütter* stärken, ihnen Mut machen wollen und für die sprechen, die es nicht können.“ Zitat @facesofmoms „Bis eine* weint!“
Gastbeitrag von Eva Hampl.
Das Buch „Bis eine* weint!“ ist im Buchhandel und auf allen online Portalen erhältlich
Faces of Moms* Natalie Stanczak & Nicole Noller findet ihr hier: www.facesofmoms.de
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