Steile These, die das Zeit Doctor Magazin bereits vor 3 Jahren zum Thema Psychische Gesundheit headlinerte, die aber inzwischen wissenschaftlich belegt ist. Das gemeine Stadtleben erhöht nicht nur das Risiko für Depressivität, sondern auch für Schizophrenie und Angststörungen. Psychiater und Stressforscher Dr. med. Mazda Adli und Jonas Schöndorf meinen[1]: der chronische soziale Stress in Städten ergibt in Verbindung mit gewissen psychologischen oder genetischen Dispositionen einen pathologischen Faktor.
Um es klarzumachen. Ich liebe urbanes Leben. Pflastersteinrattern, Kultur, volle Cafes, Kontakte um Kontakte, Bäche durch die Altstadt, Bäcker vor der Tür, mit dem Fahrrad ins Bad, in den Wald. Stress hin oder her.
Nach falscher Naturromantik und „Tristesse Rural“ mit Kleinkind im 70-Jahre Haus in der Stadtrandzone, kam nach dem Rückzug in die Stadt das ganze Leben zurück.
Nun leben mit mir Menschen verstärkt in Städten, 70 Prozent der Weltbevölkerung sollen es bis 2050 sein, der Zuzug in kulturelle und wirtschaftlich attraktive Metropolen ist groß. Die Frage ist also – was schützt auf Dauer und hilft dem Einzelnen?
Neuro-Urbanistik für urbanes Glück?
Stadtbewohner erkranken also öfter – und zwar signifikant im Vergleich zur Landbevölkerung. Als urbaner Mensch trage ich ein 12-20 Prozent[2] höheres Risiko an einer Depression zu erkranken, ein doppelt so hohes Risiko an Schizophrenie zu erkranken, bei Aufwachsen in der Stadt sogar 3 x so hoch[3], und ein 21 % so hohes Risiko eine Angststörung zu erleiden[4]. Das sind klare Zahlen.
Die Charité Berlin, die TU Berlin, die Fliedner Klinik Berlin und die Alfred Herrhausen Gesellschaft haben 2015 das Interdisziplinäre Forum Neuro-Urbanistik gegründet – aus Mangel an Forschung zu diesem viel diskutierten Thema. Darin vereinen sich Psychiater, Depressions- und Stressforscher, Praktiker aus Architektur, Stadtplanung, Soziologie und Neurowissenschaften nun in der Suche nach Antworten.
Am 28.1.2021 hat das erste Projekttreffen des Forums Neurourbanistik stattgefunden, Impulsbeiträge zu „Metropole contra Kleinstadt“ und „verkörperte Kognition und die Stadt als Medium“ waren Thema. Im April 2022 analysierten Unternehmer, Politiker und Psychologen das Thema „Einsamkeit in der Stadt“ bei der Podiumsdiskussion: Berlin – Stadt der einsamen, jungen Erwachsenen?
Die Antworten: Bad Guys – Sozialer Stress und Isolation
Antworten gibt es also einige: Projektleiter und Stressforscher Dr. Mazda Adli benennt sozialen Stress als einen der wesentlichen Risikofaktoren in der Stadt. Vor allem soziale Dichte gepaart mit gleichzeitiger soziales Einsamkeit lassen diese Art des Stresstyps entstehen.
Die Good Guys: Salons für Neurourbanistik, Gemeinschaft und urbane Kultur
Als Maßnahmen dagegen benennt er „Urbane Kultur“ und den Willen der Politik für Grün und öffentliche Plätze, an denen Menschen sich treffen und ein Gefühl von Gemeinschaft entstehen könne.
Das Forum arbeitet an einer Public Mental Health Strategie für die Städte und richtet sogenannte Neurourbanistik Salons aus, welche die Öffentlichkeit in die Diskussion bringen.
„Städte mit Stadtzentrum sind emotional leichter zu fassen“, sagt Adli. „Ein blockartiger Aufbau wie in US-Metropolen verhindert Heimatgefühl eher“. Verweilzonen sowie Transitzonen für soziale Kontakte sind weitere seiner Forderungen und auch ein neuer Wohnungsbau mit gemeinsamen Küchen und Gärten sei eine Idee, die zusammenbringe.
Urbane Wälder für Psychohygiene
Und nicht nur die Blumenwiese oder der städtische Kräutergarten im Palettenhochbeet erfreuen die Seele. Der Wald muss her – nah an die Stadt oder besser noch in die Stadt. Eine neu veröffentliche Studie des Karlsruher Instituts für Technologie zu städtischen Wäldern im Corona-Lockdown hat gezeigt, dass der Wald die Resilienz erhöht und Besuche unter Bäumen zum subjektiven Wohlergehen wesentlich beitragen.
Urban Mental Health: Orte, die verankern, statt „Unorte“, die identitätslos sind
Und dann wäre da noch die Stadtplanung, die in Sachen Architektur so einiges ausrichten könnte. Denn nicht nur ich erlebe täglich das seelenlose Gefühl in einer Neubautensiedlung im Kontrast zur Wärme in einer alten Altstadtgasse.
In der theoretischen Architekturdebatte wird von so genannten „Unorten“ und „Orten“ gesprochen. Der Ethnologe Marc Augé oder der Architekt Christoph Ingenhoven definieren diese als leere städtische Räume, denen die Eigenschaft als Ort, unter anthropologischem Gesichtspunkt, abgesprochen werden kann.
Diese Unorte üben zwar häufig eine große Anziehungskraft – vor allem auf Fotografen – ob ihres Nichts, der Strukturen und der fehlenden Seele aus.
Für die bewohnenden Menschen fehlt aber der Anker, die Identität eines Ortes, „der hinzufügende Aspekt, das Aufladen des Ortes, das Verankern“, so Ingenhoven.
Zeitgenössischer Städtebau sei oft wie eine Ansammlung von Einzelgebäuden, wie ein Architekturzoo, meint der Architekt. Er fordert stattdessen ein Konzept und eine Architektursprache aus Form und Material. Ingenhoven verglich beispielsweise die Speicherstadt in Hamburg, in der das „Verankern“ gut gelungen sei, mit dem neuen „Unort“ Hafencity.
Ingenhoven plädiert für Mut zur Größe und zum Städtebau als dreidimensionale Kunstform.
Viele Megastädte sind eine „wunderbare Katastrophe“. Sie stehen vor dem Verkehrs- und Armutskollaps, aber stellen gleichzeitig die Emanzipation von den Zwängen des Landlebens dar.
Christoph Ingenhoven, Architekt, in http://www.muenchenarchitektur.de
Charta der Neurourbanistik: Sensibilisierung der Politik und Stadtplanung
Das Forum oder Stiftungen haben das Thema Stadt, urbane Gesundheit und eine Stadtplanung für langfristig gesunde Bewohner in den Städten auf dem Schirm. Immer wieder tun sich Kooperationen und Initiativen auf, die Städteplanung beeinflussen oder diese in Zukunft vielleicht sogar überflüssig machen.
Auch das Interdisziplinäre Forum Neuro-Urbanistik hat sich jetzt erstmal ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Sie will langfristig eine „Charta der Neurourbanistik“ entwickeln, die Politik und Stadtplanung für das Thema sensibilisiert und dem Einzelnen Möglichkeiten für ein Engagement in diese Richtung aufzeigt.
Die Alfred-Herrenhauser-Stiftung in Berlin greift im Projekt Urban Age Debates den Wandel im Wesen der Städte durch COVID-19 auf. Das veränderte Einkaufsverhalten, die Digitalisierung, Homeoffice und die sich verändernde Mobilität werden auf Basis von Umfragen und Interviews bewertet und die akuten Herausforderungen in Papers skizziert.
Urbane seelische Gesundheit ist Zukunftsthema. Ich kann ein persönliches Lied davon singen, denn nach der heimeligen Altstadt kam der Umzug in einen stadtnahen Neubau. „Unort“ würde Ingenhoven die Siedlung benennen. Verankert bin ich dort nach 6 Jahren immer noch nicht. Mein Herz wohnt im geankerten, identitätsstiftenden Innerstädtischen. Der Wohn- und Lebensraum prägt den Alltag zu 100 Prozent. Das Thema urbane seelische Gesundheit bleibt für mich ein Dauer- und Zukunftsthema.
Über die Autorin
Eva ist Journalistin und schreibt am liebsten über gesellschaftliche Themen, Kunst oder Architektur. Strukturelle Ungleichheit steht ganz oben auf der Agenda – neben 2 Kindern und dem Lohnerwerb als PR- und SEO-Tante und Lektorin. Ihr findet sie auf Instagram unter @eva_hampl und unter EvaHamplBlog.
Noch mehr Artikel von Eva
ZEIT Quereinsteiger an Schulen
ZEIT Ohne Ranzen zur Schule
ZEIT Zwischen Beraterjob und Wickeltisch
Tagesspiegel Forschen und Lehren: Doktortitel – und dann?
Literaturhinweise:
KIT Studie:
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S2210670721005175?dgcid=author
http://www.muenchenarchitektur.com / Jan Esche im Gespräch mit Christoph Ingenhoven und Hans Georg Esch.
http://www.healthcapital.de/news / Innovationspreis für Interdisziplinäres Forum Neuro-Urbanistik.
http://www.alfred-herrhausen-gesellschaft.de
Mazda Adli und Jonas Schöndorf: Macht uns die Stadt krank?
[1] verfasst von: Prof. Dr. med. Mazda Adli, Jonas Schöndorf
Erschienen in: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz | Ausgabe 8/2020
[2] Sundquist K, Frank G, Sundquist J (2004) Urbanisation and incidence of psychosis and depression: follow-up study of 4.4 million women and men in Sweden. Br J Psychiatry 184:293–298 PubMed
[3] 1 Pedersen CB, Mortensen PB (2001) Evidence of a dose-response relationship between urbanicity during upbringing and schizophrenia risk. Arch Gen Psychiatry 58:1039–1046 PubMed
[4] Peen J, Schoevers RA, Beekman AT, Dekker J (2010) The current status of urban-rural differences in psychiatric disorders. Acta Neurol Scand 121:84–93