Hauptstadtmutti

Quotenberlinerin: Schmerz, Toxic Positivity und Jutta

„Ich sollte durchstarten. Mit eigenem Kinderbuchverlag und zwei neuen Buchtiteln im Gepäck. Als Kreative, Selbständige und zweifache Mutter zeckt Tante Coronas Ohrfeige gerade dreifach. Ich verdiene noch nicht. Investiere gerade alles. Was glaubt ihr wie sich die Rollenverteilung bei uns wortlos sortiert hat? Mein Mann macht Vollzeit Homeoffice und muss Vollzeit verdienen… und ich? 

Ich spiele rundumdieuhrundbisnichtsmehrgeht Mädchen für alles. Unsere Familie rockt das hier gerade mit allen Sinnen, die uns geschenkt wurden und dennoch geht uns langsam der Atem aus.

Wir gehören zu den Glücklichen, deren Existenz nicht direkt gefährdet ist. Es sei denn, unsere Ehe fällt Corona zum Fraß. Dann geh auch ich existenziell vor die Hunde. Aber dagegen verteidigen uns einige meiner vielen aktuellen Hauptrollen, vornehmlich die der Ehefrau, Partnerin, Liebhaberin, Mama und Co-Chief Executive Officer des Familienkrisenmanagements Covid 19 Gremiums.“

Das schrieb ich im April 2020.

Danach kam der mentale Zusammenbruch. Licht aus. Medikamentöse Neueinstellung. Vorhang auf. Meine Buchbabies habe ich in nicht wirklich vorhandenen Lücken geboren und vertrieben. An einen Arbeitsalltag, Kurzarbeitergeld oder andere finanzielle Unterstützung für meine Existenzgründung ist nicht zu denken.

Ich bin als Kinderbuchautorin mit eigenem Verlag nicht nur nicht systemrelevant, sondern gänzlich systemunsichtbar. Seit Dezember habe ich nicht einmal genug für eine Wohnungsmiete verdient, – 5% bzw. 7% MwSt. und laufende Betriebskosten. 

Ist doch unwesentlich, dass mein Verlag noch ein paar tausend Scheine in den Miesen hängt. Kann ich doch absetzen. Es hat mir gut zu gehen. Mein Mann versorgt uns finanziell und wir bangen um nichts. Da habe ich nicht zu jammern. Kein Recht auf den Anspruch, selbst etwas beruflich und finanziell zu reißen. Ging doch die letzten fünf schwangeren, gebärenden, stillenden, kinderversorgenden Jahre auch. Ein Jahr mehr hin oder her. 

Aber klar geht’s mir gut 

Ich möchte immer die sein, die bleiben mag und nie die, die bleiben muss und somit ist es ist mir keineswegs bummsegal, dass wir seit den 50ern noch keinen Schritt vorwärts gemacht haben, egal wie gut wir uns als Paar sortieren. Mein Gehirn sieht das genauso und das macht was mit mir. 

Aus rein rationaler Perspektive verstehe ich all die restriktiven Einschränkungen und heiße sie nicht nur gut, sondern vor allem wichtig und richtig. Mein Herz sieht das anders. Es ist an der Zeit zuzugeben, dass hier längst keine Herzen mehr gen Himmel fliegen und sich alle Schmeißfliegen der Welt zum Endlosschleife drehen über dem Misthaufen verabredet haben.

Wir sind an dem Punkt der Pandemie angekommen, an dem die Pleite der wegradierten menschlichen Nähe, der geplatzten Existenzen, des versäumten Weltenbummelns und der erstickenden Einsamkeit so zum Himmel stinkt, dass eben nur noch der Leckrüssel, dieser meist metallisch blau oder grün bis goldgrün glänzend gefärbten Zweiflügler Geschmack daran finden. Sonst fliegt hier niemand mehr. 

Aus SFX wird nach einer unverschämten Ewigkeit BER und wir Passagiere heimknasten zum etlichsten Mal, während wir ‚Alarm weil Covid 19‘-Krimi ohne Action binge watchen bis wir vor Lockdown-Langeweile oder gar dem Gegenteil, weil Homeschooling, Homeoffice, HomeKiTa und schwindender Homeharmony erbrechen. 

Sag mir nicht: „aber eigentlich geht’s mir ja im Vergleich zu Cousine Jutta aus Pommern ganz gut“. Klar hast du im Vergleich zu ihr noch einen Job, wenn auch in Kurzarbeit. Eine Wohnung, wenn auch nur noch eine Miete im Portemonnaie. Einen Partner, den du wegen zu viel Nähe nicht mehr riechen magst und im Zweifelsfall auch noch die Kinder, die sich Jutta nach vier Fehlgeburten und drei gescheiterter IVFs ein Leben lang wünschen wird. Die du aber kurz mal nicht mehr sehen möchtest. Weil sie seit einem Jahr mit dir ins Bad schleichen, obwohl du nur mal verzweifelt schreien und/oder heulen musst. 

Toxic positivity nennt sich dieser krankmachende Vergleich mit deiner Cousine Jutta, die es vermeintlich noch schlechter als du hat. Kalligrafisch verhübschte Positivklugscheissereien haben Hochkonjunktur. Leider kann uns das ewige wegschauen den Moment verpassen lassen, in dem unser Gehirn professionelle Hilfe und Zuwendung braucht. Auch mentale Erkrankungen lassen sich verschleppen. Wer das Köpfchen immer der Sonne zuwendet, damit der Schatten hinter sie fällt, verpasst im besten Fall die Schönheit des eigenen Schattens und im schlimmsten Fall die Behandlung einer nicht mehr wegzudenkenden Dunkelheit. Die dir auf Schritt und Tritt folgt und die es zu behandeln gilt. Weil sie, wie ihr Name schon hergibt, eine Erkrankung ist. 

Wir quatschen unsere psychosomatisch bedingten körperlichen Aussetzer, Herzschmerzen und Seelenleiden klein, um uns bloß nicht „undankbar jammernd auf hohem Niveau“ auf die Fahnen zu schreiben. Dabei wehen unsere weißen Flaggen, längst wind- und witterungsbedingt verschlissen, verdreckt als Fetzen im Wind. Es interessiert Viren einen Dreck, dass wir uns ergeben und so ergeben wir uns weiter. Also ergibt sich das eine aus dem Anderen und wir sind kurz vorm Aufgeben. Manche ihren Job, andere ihre Ehe und einige ihr Leben. 

Liebe Mitmenschen, Ohren auf und kurz mal Klappe zu: Wir durchleben gerade eine noch nie da gewesene Dürre an menschlichem Bei-, Für- und Miteinander. Wir alle, die wir Erdbewohnende sind, dürfen uns seit einem Jahr nicht mehr gegenseitig (im Arm) halten. Wir können nicht noch mehr ertragen, denn wir dürfen uns gegenseitig nicht beim Tragen helfen, weil Abstand etc. pp. 

Es ist also völlig egal, ob es deine Cousine Jutta noch schlimmer getroffen hat. Wir haben das Recht, nein sogar die Pflicht, das Verlorengegangene zu betrauern. Unsere Freiheit und Lebensweise wurde amputiert und es ist egal ob uns diese „kurzfristige“ Amputation das Leben rettet. Wir dürfen und müssen dem Abgetrennten, dem Verlorenen nachtrauern. 

Wir fühlen Schmerz und der muss raus. 

So zu tun, als ob es uns gut geht, weil es Cousinchen schlechter ergeht, wäre zu sagen, du darfst den Tod deiner Oma nicht betrauern, weil deine Freundin gerade ihr Kind an Krebs verloren hat. Und Oma war ja schon alt und hatte ein erfülltes Leben. Vergleiche hinken und helfen dir und mir nicht weiter. Schon gar nicht beim Heilen. Unsere individuellen Wunden klaffen und suppen, egal ob deren Schmisse und Brüche größer sind. Sie brauchen und verdienen liebevolle Beachtung, Versorgung und im Zweifel einen Blick und die Behandlung vom Engel im weißen Kittel. Sonst heilt hier nix und überlebt hier niemand. So ist das mit Infektionen und diese wütet ja bekanntlich weltweit. 

Nennt sich übrigens Pandemie und hat viele Kollateralschäden und Spätfolgen und damit meine ich nicht nur das Virus, das es zu bekämpfen gilt, sondern auch die Opfer, die wir alle, mögen sie noch so klein oder groß sein, für diesen Kampf erbringen müssen. Das hier macht was mit uns und ja, dieser Zustand ist zeitlich begrenzt. Aber ein Jahr ist eine lange Zeit. Im Fall meiner jüngsten Tochter fast ihr halbes Leben. 

Das Leben lebt nicht von Licht oder Dunkelheit. Es sind die Momente, in denen die Sonne untergeht, in denen Licht und Dunkelheit sich ihrem Gespräch hingeben. Augenblicke, in denen die Natur vor Schönheit platzt, vor aufgeregtem Geschnatter erhellt, während Schatten sich ausgedehnt faulenzend in die Landschaft legen und auf den Weg schmiegen. 

Wir brauchen sie beide, Licht und Dunkelheit, um mit ihrer Unterhaltung am Abend den Tag Revue passieren zu lassen und etwas über den Morgen zu erfahren. Wir brauchen die Dunkelheit, um die Farben des Tages zu schätzen. Nur nach einer rastlosen Nacht ist der Morgen zu grell, die Impulse des Lichtes ein Leid und der Lärm lähmend. Eine Pandemie ist Dunkelheit ohne Rast. Wir brauchen Ruhe und Schlaf. Bis wir beides erleben, werden wir den nächsten Tag nicht schätzen. Wir sind müde. Erschöpft. Aus Leere können wir nicht schöpfen und so muss die nächste Schöpfung warten. 

Berliner Kind: Geschichten denke ich mir nicht aus, denn das Leben schreibt meine absurd skurrilen Kapitel selbst. Auf das eine oder andere hätte ich gern verzichtet (dieses insbesondere). So ist die Sache mit dem Leben und ich beschreibe was meins schreibt. Schön wenn ihr mitlest und meine Texte euch (be)rühren. 

Für mehr Linnie von Sky besucht ihren Instagram Account oder ihre Website. Dort findet ihr außerdem ihre traumhaften Kinderbücher und viele mehr! 

Foto im Titel: Anna Härlin

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