„Mensch Junge, du lebst unseren Traum“, gab mir Kollege Felix mit auf den Weg, als wir uns kurz vor Weihnachten verabschiedeten. Ich war im Begriff, mit der Familie ins Ausland zu gehen, nach Brasilien.
Drei Jahre nicht die Tretmühle aus morgens aufstehen, zur Bahn hetzen, acht oder neun Stunden Arbeit abreißen, nach 12 Stunden nach Hause kommen und feststellen, dass es für andere Aktivitäten zu spät oder man schlicht zu platt ist. Schließlich geht es am nächsten Morgen um 6.15 Uhr schon wieder weiter. Manchmal hatten wir einfach das Gefühl, neben unserem Leben herzuschwimmen und ständig gegen das Absaufen zu kämpfen. Seit Ende Januar leben wir in Rio de Janeiro. Wir, das sind Wiebke (41), Andi (42) und die Zwillinge Ella und Edgar (6). Für drei Jahre tauschen wir unsere Heimatstadt Frankfurt am Main gegen die Megacity am Zuckerhut ein. Wiebke hat eine Stelle als Mathe- und Englischlehrerin an der Escola Alemã Corcovado, der Deutschen Schule Rio de Janeiro. Ich, Andi, von Beruf Journalist, gebe den Hausmann und versuche eine freiberufliche Tätigkeit aufzubauen.
Als wir, also die Kollegen und ich, uns noch auf Google-Streetview die Umgebung der Schule anschauten, war das Raunen groß. Dort als Hausmann vor sich hinvegetieren dürfen, ohne Pflichten, Sommer, Sonne, Samba genießen und Caipirinha schlürfen – das war wahrscheinlich die Vorstellung, die Felix mit dem Wort Traum zu umschreiben versuchte. Wir hatten auf diesen Schritt hingelebt. Zeit und Nerven investiert und zum Abschied mehr als nur eine Träne vergossen: Endlich loslassen, raus aus der Mühle.
Mehr als ein Jahr lang reifte es in uns, nahm das Gedankenspiel immer konkretere Formen an, bis eines Tages der Vertrag im Briefkasten lag. Von da an wurde aus dem Traum Realität. Das war im Frühjahr 2015. Fortan legte ich mir Formulierungen zurecht, wie ich es meinem Chef verklickern würde. Einige wenige Kollegen hatte ich früh ins Vertrauen gezogen meist solche, die mich in dem Vorhaben unterstützen würden. Die Idee hatten Wiebke und ich schon lange. Wir hatten uns 1997 im Studium in England kennengelernt, waren anschließend lange zwischen Bonn und Hamburg gependelt, später durch die Welt gereist. Als wir fester zusammenkamen und irgendwie absehbar wurde, dass der weitere Lebensweg ein gemeinsamer sein würde, schworen wir uns: Irgendwann wollen wir nochmal gemeinsam im Ausland leben. An eine Stelle als Korrespondent, oder etwas, womit man eine Familie ernähren konnte, war in meinem Beruf als Journalist nicht zu denken. Als Lehrer gibt es da schon andere Möglichkeiten. Weit über hundert deutsche Auslandsschulen gibt es, an allen unterrichten Lehrer aus Deutschland. Die Verträge laufen in der Regel zwei oder drei Jahre, mit Verlängerungsoption (detailliert haben wir das in unserem Blog Hallo Rio! beschrieben). „Schau doch mal nach, ob da was geht“, sagte ich zu Wiebke im Herbst 2014. Danach nahm alles seinen Lauf.
Kann ich meine unbefristete Stelle für unseren Traum aufgeben?
Eines war mir klar: Ich war im Begriff, eine der raren, unbefristeten, halbwegs sicheren Vollzeitstellen in einer krisengebeutelten Branche herzuschenken. Für diesen Entschluss gab es nicht nur anerkennende Worte, sondern auch Kritik. Schließlich müsse man ja auch an die Zeit danach denken. Deutsches Sicherheitsdenken eben. Würde man mit Mitte vierzig und drei Jahren mehr oder weniger Auszeit als schwer vermittelbar gelten? Stimmt schon: Aber die Kinder sind noch klein, würden im Ausland eingeschult, kämen in der Grundschule zurück nach Deutschland. Die Großeltern sind noch jung genug, um vorübergehend alleine klar zu kommen. Schnell wurde uns klar: Jetzt oder nie.
Natürlich hatte ich, hatten wir, die Fürs und Wider wieder und wieder durchgekaut. Und mit drei Jahren Auslandserfahrung habe ich, neben einer Sprache, durchaus auch weitere Kompetenzen erworben, die mich vielleicht aus der Masse herausheben würden. Aber vielleicht würde die Zeit in Rio auch Gelegenheit bieten, den Status Quo zu überdenken. Zu schauen, ob der Journalismus auf Dauer trägt – wirtschaftlich – oder ob sich nicht vielleicht eine Chance ergibt, ein neues Betätigungsfeld zu erschließen. Mit dieser Haltung machten wir uns Ende Januar auf den Weg.
Einer unserer ersten Kontakte in Rio war Lehrerkollege Markus. Die Frage „Und was machst Du so“ kannte ich bereits, ich hatte sie bis dahin oft beantworten müssen. „Bis alles läuft und wir uns eingelebt haben, gebe ich den Hausmann“, antwortete ich. „Ich bin fest entschlossen, die Rolle anzunehmen. Danach mal sehen. Möglichkeiten gibt es ja genug.“ Olympia steht vor der Türe, das ewige Land der Zukunft schwächelt wirtschaftlich und politisch kracht es gewaltig. Nur: Was wenn es nicht so läuft? Ich mehr an den Haushalt gebunden sein würde als gedacht? Es sich nichts ergibt?
Auch im sonnigen Rio gibt es einen (Familien-)alltag
Die Grundschule läuft jeden Tag von 7.15 bis 12.40 Uhr. Ganztagsschule gibt es nicht, auch keinen Hort. Dafür ist der Unterricht für den Vormittag garantiert – kein plötzlicher früher Schulschluss, keine Stundenausfälle. Damit kann man planen. Zweimal die Woche haben die Kinder AG. Donnerstags verlängert sich so der Tag bis 13.30 Uhr, Geige ist dienstags und mittwochs gegen 15.30 Uhr. Anders als in Deutschland müssen die Kinder von den Eltern gebracht bzw. abgeholt werden. Das ist mein Part. Das hat auch Sicherheitsgründe. Denn die Deutsche Schule ist Privatschule, kostet Schulgeld, das sich nicht jeder in Rio leisten kann. Deshalb könnten die Kinder womöglich beliebte Entführungsopfer sein. Weiß nicht, ob das jemals vorkam. Aber die Sicherheitsvorkehrungen sind stattlich. Hohe Zäune sind überall Pflicht, Kameras auch. Wer auf das Gelände will, muss beim Porteiro vorbei (das gilt soweit für nahezu jedes Wohnhaus in Rios Südzone). Der Porteiro begrüßt morgens die Kinder alle per Handschlag und die Eltern nach einer Weile auch. Ist man durch das Wärterhäuschen durch, landet man in einer Art Schleuse. Wieder ein Zaun, wieder jemand, der genau hinschaut. Gäste müssen sich ausweisen, den Grund ihres Besuchs nennen und bekommen dann einen Besucherausweis. Alles wird fein säuberlich vermerkt. Deutsche Gründlichkeit.
Das Thema Sicherheit ist mit Kindern in Rio ernst zu nehmen. Kinder auf der Straße spielen lassen? Das sieht man nur in den Favelas. Andere werden stets herumkutschiert oder kommen in Begleitung der Eltern. Die Kriminalitätsrate ist enorm, wenngleich sich vieles im Drogenmilieu oder im Kleinkriminellen widerspiegelt. Wir fühlen uns sicher, bewegen uns innerhalb gewisser Regeln und Stadtgebieten völlig frei. Trotzdem: Wachsamkeit ist Pflicht, das hat man schnell intus. Mit sechs ist das noch nicht so schlimm, denke ich, weil es in Deutschland ähnlich noch wäre. Aber sind die Kinder 12 oder 15? Viel Privatleben spielt sich im Haus ab, oder im Condominio, wie die Hochhauswohnkomplexe genannt werden. Deshalb hatten wir ziemlich schnell beschlossen nochmals umzuziehen. Das erste Hochhaus bot für Kinder nichts – ein abschüssiger Hof, der nicht mal zum Rollerbladen taugte. Deshalb machten wir uns nochmal auf die Wohnungssuche, suchten gezielt nach einem Condominio mit Swimmingpool und Spielareal. Die derzeitige Wirtschaftskrise spielte uns in die Karten. Die Mieten in Rio sinken seit vorigem Jahr, sind aber immer noch happig. Für unsere recht kleine Drei-Zimmer-Wohnung zahlen wir umgerechnet 1.700 Euro. Strom, Wasser, Gas extra. Ohne Mietkostenzuschuss ginge das nicht. Sind die Eltern berufstätig, wird in vielen Familien die Betreuungslücke durch eine Empregada (Hausmädchen) oder eine Bebe (Kindermädchen) gestopft. Das ist nichts Ungewöhnliches. Viele sind auf diese kleinen Jobs, die immerhin sozialversichert sind, angewiesen. Denn man kann ihn ohne große Bildung ausüben.
Das Thema Empregada haben wir bislang noch nicht aktiv verfolgt. Zum einen ist es uns als Deutsche natürlich fremd, ein Dienstmädchen zu beschäftigen. Irgendwie hätte das für mich einen kolonialen postwilhelminischen Touch. Wäre es zum anderen nicht gut und fair, jemandem die Chance auf einen Verdienst zu geben? Aber hey, stopp, ich bin ja auch noch da – wäre ich dann nicht überflüssig?
Eine meiner Vorbereitungslektüren war das Buch „Damenprogramm“ von Michael Hasenpausch. Darin berichtet er von seinen Erlebnissen, als er mit seiner Frau vor Jahren vorübergehend nach Ghana zog. Seine Frau hatte den Job, er blieb zu Hause, hatte also Zeit für das Damenprogramm. Damenprogramm bezeichnet man das Unterhaltungsprogramm, dass beispielsweise Messegesellschaften für mitreisende Ehefrauen anbietet, damit diese sich nicht allzu sehr langweilen, während der Gatte Geschäfte macht. Meist werden Ausflüge und Besuche bei Sehenswürdigkeiten angeboten.
Daraufhin war ich gewarnt: Es würde wichtig werden, Beschäftigung abseits der Hausarbeit zu finden, damit das Selbstwertgefühl nicht leidet und Unzufriedenheit Einzug hält. Denn die würde auf Dauer auch das Familienleben belasten. Doch ich will ja nicht bremsen, oder mich als Bremse fühlen, sondern ein Rückhalt sein, der Fels in der Brandung, das Licht in der Dunkelheit – fällt einem eine bessere Metapher ein? Die Rolle selbstbewusst mit Leben zu füllen bedeutet auch, die Position in der zweiten Reihe zu akzeptieren. Das beginnt mit dem Eintrag „Mitreisender Ehepartner der Lehrerin“ im Dienstpass, über den ich zunächst schmunzelte. Es setzt sich fort als quasi nichtexistente Person bei geschäftlichen Dingen. Es bringt nichts, wenn ich ein Dokument oder ein Antragsformular unterschreibe, wenn meine Frau nicht auch unterschrieben hat. Sie hat den Aufenthaltstitel, ich bin das Anhängsel. Und es schlägt sich letztlich nach unten durch. Ich muss sehen, dass bei Wiebkes stattlichen Pensum (natürlich volle Stelle mit vielen Extras an Wochenenden) alles fluppt, wenn Arztbesuche mit den Kindern, Elternabende, wochenendliche Fortbildungen oder Klassenfahrten anstehen. Diskussion zwecklos. Schließlich trage ich ja nicht direkt zum Familieneinkommen bei. Das ist der Deal.
Mit der Familie ins Ausland: Resümee eines Hausmanns
Das jedoch uneingeschränkt zu unterstützen ist nicht leicht. Ich merke schon, dass es hin und wieder hochkocht, ich mir denke „wieso denn das jetzt auch noch?“ oder ich innerlich die Faust in der Tasche mache. Bedingungslos Rücksicht auf das Familienleben nehmen zu müssen, wurde von mir bisher nicht verlangt, das muss ich echt noch lernen, da bin ich noch lange nicht an dem Punkt, wo ich hin muss und auch hin will. Also versuche ich aus der Not eine Tugend zu machen. Ich erstelle einen Essensplan für die Woche. Den gibt es auch für die Pausenbrote. Denn schon beim ersten Kontakt, der Einschulung und auch beim ersten Elternabend kurz drauf, war das eine Kernbitte der Schule. Bitte eine Chips, Kuchen, Schokoriegel, Kaffeeteilchen, Popcorn oder anderen Mist mitgeben. Deutschen Eltern, das unterstelle ich mal, ist das Thema bekannt. Nach der Sitzung fragte ich den Schulleiter, wie es denn aussähe, einmal pro Woche ein Nutellabrot mitzugeben. Er sah mich an und sagte: „Damit sind sie immer noch ganz vorne mit dabei.“ Wahrscheinlich sind unserer Kinder, neben den anderen Lehrerkindern der Schule die einzigen, die täglich neben einem Brot (nur einmal Süßbelag pro Woche) frisches Obst oder Gemüse und bestenfalls einen Müsliriegel und Safttrinkpäckchen (und nicht Cola, Guaraná-Limo oder übersüßten Mate-Tee) mitbringen. Hoffentlich werden sie von ihren Mitschülern dafür nicht gedisst. Bislang habe ich davon aber noch nichts gehört.
Ob es nun tatsächlich der Traum so vieler ist, den ich, den wir hier leben? Eines steht fest: Auch bei permanent schönstem Sommerwetter kehrt Alltag ein. Und wenn am Freitag der Wecker zum fünften Mal in Folge um 5.40 Uhr klingelt, ist das nicht direkt traumhaft. Aber: Alleine den Schritt zu wagen, das sichere, behütete Leben vorübergehend für ein Leben in einer chaotischen, gefährlichen, heißen aber auch sehr herzlichen und aufgeschlossenen Stadt einzutauschen, in der einen gerade zu Beginn kaum einer versteht, die Gepflogenheiten und Mentalität so anders sind und irgendwie auch festzustellen, dass man klar kommt, dass man Wege findet – das ist ein Geschenk und jede Mühe wert. Und das permanente Fernweh ist seither auch weg.
Text & Fotos: Andreas Nöthen von Hallo Rio!
Wenn ihr wissen wollt, wie es sich als Familie in Barcelona leben lässt, haben wir hier die Geschichte von Anna und ihrer Familie.
Und hier haben wir noch einen Artikel von Nina und ihrer Familie in Schweden.