Alle wollen Antworten auf die großen Fragen im Leben. In einer Therapie lernt man, wen man fragen muss. Wer offen zugibt, dass er in Therapie ist, gilt als verrückt, bisschen schräg, krank. Doch die Wahrheit ist: Der Wahnsinn lauert außerhalb der Praxen.
„SIE GEHÖREN IN THERAPIE!“, schreit mich der Mann an! „ICH BIN SEIT 12 JAHREN IN THERAPIE!“, schreie ich zurück. – Betretenes Schweigen im gesamten Blumenladen, als hätte sich mit meinem Geständnis auch gleich die Frage geklärt, wer hier im Unrecht ist. Der Kunde hinter mir sieht sich hektisch um und erwartet offenbar, dass ich jeden Moment mit der Zwangsjacke abgeholt werde. Dabei wollte ich nur nicht übergangen werden und gleichzeitig meiner Tochter ein wehrhaftes Vorbild sein. Außerdem will ich eine gute Feministin sein und kann mir so alte weiße Männer-moves wie vordrängeln einfach nicht gefallen lassen. Leider stellt mich die Therapie-Ansage so derart in die Spinner-Ecke, dass ich gleich ganz irre gucke als ich endlich meinen Blumenstrauß bezahlen kann.
Zum Kotzen – Ein Lebensmotto
Aber eigentlich bin ich nur ein ganz kleines bisschen gestört – essgestört, um genau zu sein. Deswegen habe ich mit Mitte 20 das erste Mal meine Therapeutin aufgesucht. Meine Gedanken waren vom Essen beherrscht oder vielmehr davon, wie man es meidet. Das Dogma war: dünn sein. Selbstkontrolle. Selbsthass. Seit meinem 14. Lebensjahr litt ich eigentlich permanent Hunger, was in einer Gesellschaft des Überflusses wirklich nur als krank gelten kann. Oder war die Gesellschaft krank? Mit den Nöten eines unsicheren Teenagers, einem strafenden Elternhaus und dem bizarren Anspruch, einem Körperideal zu entsprechen, das möglichst wenig Platz einnimmt, trieb mich der Wahn mit den Jahren immer extremer vor sich her. Ich hatte es noch geschafft, gut geschminkt und in Kleidergröße 34 gekotzt durch die Pubertät und das Abi zu kommen, aber an der Uni scheiterte ich erst am Biologiestudium und dann endlich an dem Druck, immer die Kontrolle behalten zu müssen. Jetzt war wirklich alles zum kotzen. Halb im Delirium und körperlich ausgezehrt wurde der Wunsch wach, dass dieser Selbstgeißelungsdämon doch endlich von mir ablassen sollte. Allein fand ich jedoch nicht raus aus dem Suchtkreislauf. Nach gut 10 Jahren als Profikotzerin mit elaborierter Lautlostechnik und attestiertem Untergewicht war ich aufgrund des enormen Leidensdrucks doch mal an einer Fachmeinung interessiert. Ohne ernsthaft daran zu glauben, dass meine Religion des heiligen „Size Zero“ auch nur im Ansatz Risse bekommen könnte, suchte ich schlussendlich Rat bei einer Therapeutin.
Der Exorzismus
Mit der Aufforderung: „Und jetzt mal Butter bei die Fische!“ (hier kalorisch ja unbedenklich) erzählte ich, wie mein Zwangsalltag so aussah und verstand das erste Mal, dass ich wirklich krank war. Was nun folgte, wird in Gesprächen gern mit „Ich war in Therapie.“ abgekürzt und so kommt es, dass Menschen wie oben genannter Vordrängler die Behandlung durch einen Psychologen immer noch als Makel und Bestätigung von Unzurechnungsfähigkeit sehen. Und nicht als das, was es ist: Ein unverstellter Blick in unseren Kopf und wie wir funktionieren. Frau S. war unnachgiebig. Sie lächelte nicht als ich von meiner Kontrollhose erzählte, zeigte sich bedrückt als sie von meinen Ernährungsgesetzen hörte und notierte gewissenhaft die Einzelheiten meiner Erfahrungen. Sie brachte mir zuerst bei „Ich“ zu sagen, statt des anonymen „man“ – Ich erkannte, dass ich ein Schicksal hatte. Sie ließ keine Ausrede durchgehen. – Ich sah, dass ich mich selbst belog. Sie zeigte mir meinen Mechanismus. – Ich hatte plötzlich Mitleid mit mir. Dieser Weg war vor allem von heftiger Gegenwehr geprägt, denn diese Verhaltensmuster sind so fest verankert, dass jeder Angriff mit einer ordentlichen Verteidigung beantwortet wird. Frau S. war Teflon und ich oft wütend. Sie war keine Freundin, die mich verstand und mich bestätigte. Ihr Job war es, einmal die Woche so richtig unangenehm für mich zu werden. Ich hasste sie manchmal und heulte oft vor Wut. Dieses bissige kratzige Tier, das sie hervorholte, war in Wahrheit ein Häufchen Elend. Nach zwei Jahren war die Essstörung besiegt und ich ihr unendlich dankbar. Viel wichtiger aber als endlich die Essstörung los zu sein, war das Werkzeug, das sie mir mitgab und das Credo: Glaub nicht alles, was Du denkst! In meiner letzten, von der Krankenkasse bewilligten Therapiestunde erzählte ich meiner Therapeutin, dass ich schwanger bin. „Das ist ganz typisch.“ sagte sie „Jetzt, wo der Körper freundlich behandelt wird, kann er auch neues Leben beginnen.“ Ein bisschen Angst überkam mich, nun wieder ohne meine strenge Wächterin die Verantwortung zu übernehmen, aber das Kind, das in mir heranwuchs lehrte mich von Tag zu Tag mehr, meinen Körper als das zu betrachten, was er war: Ein perfekt funktionierendes Wunder! Trotzdem sollten wir uns bald wiedersehen, nur diesmal nicht wegen meiner krankhaften Angst vor Bratwurst und Schokolade.
Endgegner Gefühle
Drei Jahre vergingen und ich saß wieder bei Frau S. auf der Couch (ja, sitzen, kein Mensch liegt, denn es ist ein Gespräch auf Augenhöhe). Diesmal sollte ich „Gefühle“ lernen. Denn da kam einiges auf mich zu, als mein Mann sich entschied, mich zu verlassen. Nach anfänglicher Gefühlstaubheit und dem Versuch, die Trennung zu gewinnen, musste ich mir irgendwann eingestehen, dass es besser ist, sich mit dieser Lebens-Erschütterung bewusst auseinander zu setzen. Ein Spaß war das nicht, denn ich habe Frau S. angerufen, um mit ihr die ganzen hässlichen Verlassenheitsgefühle, die Wut und die Ohnmacht so richtig gnadenlos ans Licht zu zerren. Das Werkzeug aus der ersten Therapie ist nämlich kein Schema F, um dann alle Probleme wegzulächeln, es ist vielmehr die Fähigkeit, zu erkennen, dass man Hilfe braucht in einer problematischen Lebensphase. Und das hier war hochproblematisch. Diesmal lernte ich, dass ich vor Gefühlen noch viel mehr Angst hatte als vor Bratwurstkalorien. Zudem tappte ich vollständig im Dunkeln. Als ich Frau S. eine Situation schilderte und sie mich fragte: „Und wie haben sie sich da gefühlt?“ Gab ich zur Antwort: „Weiß nicht, was gibt´s denn so?“ Das ist leider kein Scherz, ich konnte die Gefühlslage nicht mal korrekt identifizieren, sollte aber ein Kind erziehen, eine Trennung meistern und gleichzeitig im Job 120% geben. Ich war selbst noch gar nicht erwachsen. Viele Menschen ohne Therapie-Erfahrung stellen sich diese Form der therapeutischen Hilfe immer so vor, als würden Psychologen sich darum bemühen, die negativen Gefühle einfach wegzulabern. Das stimmt nicht. In den Sitzungen geht es vielmehr darum, so richtig einzutauchen in den Sumpf aus Enttäuschungen, Schmerz und Trauer. Der Psychologe bohrt genau da nach, wo es heikel wird, er ist ausgebildet, Dir aufzuzeigen, warum Du immer an den „falschen Mann“ gerätst, wieso Du beim Job immer übergangen wirst oder nie einen behältst. Warum Du glaubst, alle anderen sind schuld oder dass Dich niemand liebt.
Ich bin´s wieder! Ich hab da noch ´ne Frage
Beim dritten Mal kam ich, weil ich einen Mann kennengelernt hatte. Was Ernstes, was mit Liebe. Ach Du Scheiße, das war noch krasser als verlassene Bratwurstangst. Zerstörerische Beziehungsmuster wollten erkannt und ausgemerzt werden. Der irre Spagat zwischen dem Wunsch einer emotionalen Heimat bei gleichzeitiger Autonomie wurde zur kompletten Überforderung. Also Werkzeugkoffer auf: Therapeutin anrufen. Ohne meine Therapie-Erfahrung hätte ich an dieser Stelle nie erkannt, dass ich selbst das „Problem“ bin, ich hätte 1000 Gründe gefunden, warum ich nicht in dieser Beziehung bleiben kann und sie schlussendlich mit ziemlicher Sicherheit zerstört. Und mit drei Therapien in den Knochen weiß ich: Die härteste Auseinandersetzung ist immer die mit einem selbst. Man lernt im Grunde, dass wir die meisten Kämpfe mit uns selbst führen. In Therapie zu gehen, wenn man Probleme hat, die allein nicht mehr zu lösen sind, ist ein verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Psyche. Denn niemand achtet auf Dein Wohlbefinden, wenn Du es nicht tust. (Kalendersprüche sind sowas wie Therapie-Essenzen) Nur wenn Probleme ihren Raum bekommen, kann man sie auch hinter sich lassen, auch wenn man dafür vorher 4 Sitzungen lang nur Rotz und Wasser heulen muss. Außerdem lernt man für sich einzustehen und dass einen all diese Gefühle nicht umbringen. Sie machen Depressionen, wenn sie nicht gesehen und gefühlt werden und im Kleinen fängt es an. Um erwachsen und wehrhaft mit seinen Verletzungen umgehen zu können, müssen wir in der Lage sein, sie zu erkennen und vor allem müssen wir uns trauen, sie zuzugeben. Auch im Blumenladen, wenn uns jemand einfach übergehen will und sich selbst wichtiger nimmt. Ein freundliches: „Hat man Ihnen ins Gehirn geschissen?“ mag auf den ersten Blick vielleicht nicht adäquat wirken, darf aber durchaus mal sein, um der Wut etwas Luft zu machen. Vor allem, wenn man vorher mehrfach angemerkt hat, dass das Ende der Schlange auch für alte weiße Männer hinten ist.
Als ich meine Blumen nehmen und den Laden verlassen konnte, fing der Vordrängler grimmig wartend meinen Blick. Plötzlich tat er mir leid, so abgestellt in die letzte Reihe und ich fragte ihn ehrlich mitfühlend: Wollen sie vielleicht die Nummer meiner Therapeutin? Die ist wirklich gut!
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Fotos: Kai Senf