Mia Gatow hat es geschafft. Sie hat ein Sachbuch geschrieben, dass ich nicht nur zu Ende gelesen habe, sondern auch geliebt habe. Ständig musste ich Passagen markieren, fotografieren, posten, an Leute schicken. Im Marketing sagen sie immer, es muss shareable sein! Die Leute müssen es teilen wollen! Nun Sweetheart, Rausch und Klarheit ist sehr shareable. Vorab, natürlich könnt ihr es lesen, auch wenn ihr ‚kein Problem mit Alkohol habt‘. Es ist auch die persönliche Geschichte einer beeindruckenden Frau und OMG, ich wünschte ich hätte es mit Anfang 20 lesen können, es hätte mir soviel Heartbreak erspart! Doch nun zu Mia.
Mia hat einen Podcast, der heißt Soda Klub, alle wichtigen Links gibt es hier. Und große, große Empfehlung für ihren Steady Content.
Liebe Mia, stell dich doch mal bitte vor.
Ich bin Mia Gatow, freie Autorin in Berlin, ich habe gerade mein erstes Buch veröffentlicht: Rausch und Klarheit, in dem es um meine Alkoholabhängigkeit und Nüchternheit geht. Und um die meiner Familie.
Rausch und Klarheit lag ein paar Wochen bei mir rum, bis ich es spontan einen Abend in die Hand nahm, und nicht mehr aufhören konnte, darin zu lesen. Ich hoffe, dass dir bewusst ist, wie großartig du schreiben kannst?
Dieses Feedback, dass die Leute nicht mehr aufhören konnten, zu lesen, das kriege ich wahnsinnig oft. So oft, dass ich mir ab einem gewissen Punkt schon Sorgen gemacht habe, dass es vielleicht einfach zu schnell durchrauscht und sich die Leute hinterher nicht mehr dran erinnern können, wie in einem Traum oder so (haha). Aber ja, es ist natürlich gut, wenn die Leute sich festlesen. Ich knete immer sehr lange auf Texten rum, editiere extrem lange, und da sollen sie am Ende auch einfach gut sein. 🙂
Nicht nur, dass dein Style mich gepackt hat, es waren vor allen Dingen die Erläuterungen zur deutschen Gesellschaft, zur Nachkriegsgeneration und den Frauen, die sich mit ihren traumatisierten Männern und dem eigenen Trauma arrangieren mussten, die mich sehr interessiert haben. Inwiefern einte das Trinken die Generationen?
Es ist sehr interessant, dass du das sagst, ich habe beim Schreiben überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass es für Nicht-Herkunftsdeutsche vielleicht auch ein bisschen die deutschen Neurosen beleuchten kann.
Wir haben es ja mit einem Intergenerationentrauma zu tun
Das hat sich von der Silent Generation, also meine Großeltern, auf die Boomer, also meine Eltern, und dann in abgeschwächter Form weiter auf uns übertragen. Die Kriegskinder hatten extreme Gewalterfahrungen, Armut und Hunger erlebt, aber redeten nicht über ihre Erlebnisse, und blieben untherapiert, was zur Folge hatte, dass sie ihren Kindern einiges an unaufgearbeiteten Problemen mitgaben. Viele waren körperlich oder psychisch gewalttätig, waren emotional abwesend oder haben getrunken. Den Krieg und den Holocaust haben die ja erstmal 25 Jahre komplett ausgeblendet, auch in den Schulen.
Und die Boomer, unsere Eltern, haben dann idealerweise in den Siebzigern angefangen, das aufzuarbeiten, wenn sie die Ressourcen dazu hatten. Das hat immer noch Auswirkungen auf uns, bis in unsere Generation.
Du bist die dritte Generation in einer „Dynastie von Trinkenden“ – Wie hat deine Familie dein Trinkverhalten beeinflusst und wie ist es dir gelungen, auszubrechen? Hat sich eure Beziehung verändert, seitdem du nüchtern bist?
Trinken hat in meiner Familie immensen Schaden angerichtet. Meine Oma ist daran gestorben, mein Vater ebenfalls, viele andere hatten die Krankheit in unterschiedlichen Schweregraden. Alkoholismus ist eine Familienkrankheit, das ist bekannt, und es ist ja auch klar:
Wir lernen zuhause alles: Bewältigungsstrategien, Gesten, Rituale des Zusammenseins.
Abgesehen von ihren Suchttendenzen war meine Familie immer schon eine tolle Familie, eine tolerante, witzige, gastfreundliche, kreative Familie. Der Alkohol hat uns individuell unglücklich gemacht, aber er hat keine irreparablen Schäden an unserem Verbundenheitsgefühl hinterlassen.
Meine Onkels und Tanten sind inzwischen alle nüchtern, und es ist das größte vorstellbare Glück. Es war sehr schön und erleichternd zu erfahren, dass sich an unseren Beziehungen in unserer kollektiven Nüchternheit nichts geändert hat. Wir sind immer noch die gleichen, nur glücklicher.
Es gibt einen Satz aus deinem Buch, der mich nicht loslässt: „Erwachsene, die nicht tranken, kannte ich nicht.“ Zunächst einmal, weil, same. Nun gut, in meinem Fall wären das dann die gläubigen Mennoniten in meinem Umfeld gewesen, die tranken wirklich gar nicht. Das hatte aber so viel mit religiöser Entsagung zu tun. Sie hatten ja auch keinen Fernseher. Wenn man aber ein Kind ist, und alle trinken, immer, was kann das für Auswirkungen auf das Kind haben?
Man lernt, dass es normal ist, man hinterfragt es nicht, man problematisiert es nicht, man ist blind für die Folgen, die es hat. Man denkt sich nicht das Trinken als Ursache für irgendwas. Wenn alle trinken, können ja die Probleme, die die Leute haben, unmöglich vom Trinken kommen. Ich konnte das Trinken erst wirklich klar sehen, und auch verstehen, für wie viele Dramen meiner Kindheit es verantwortlich war, als ich schon längst selbst damit aufgehört hatte.
Zudem ist es klar, dass man auch trinkt.
Wenn man nur trinkende Leute kennt, ist es quasi ein Ding der Unmöglichkeit, sich bewusst dagegen zu entscheiden. Als Kind, umgeben von trinkenden Erwachsenen, war total klar für mich: irgendwann trinke ich auch, denn Trinken ist Teil des Erwachsenseins, genau wie Arbeiten, Heiraten, Autofahren.
Ich habe in der Vergangenheit Werbung für alkoholhaltige und alkoholfreie Getränke gemacht und mir nichts dabei gedacht. Das sehe ich heute anders. Auch in Bezug auf die ganzen Ersatzprodukte. Wie ist deine Meinung zu alkoholfreiem Gin & Tonic für Schwangere, Stillende und Fahrende?
Grundsätzlich ist ein Getränk ohne Alkohol erstmal ja besser als eins mit Alkohol. Aber natürlich verwendet die Industrie diese Produkte ganz gezielt als Feigenblatt. Irgendeine Biermarke macht Plakatwerbung mit einer Schwangeren, und die Botschaft ist: jetzt kannst du vorübergehend leider nicht beim Genuss und bei der Geselligkeit mitmachen, die der Alkohol dir verspricht, aber wir haben hier dieses Ersatzprodukt für dich, das du nehmen kannst, bis du wieder mitmachen darfst. (Schwanger sein, Stillen oder fahren sind ja auch exakt die paar wenigen Sachen, die als Grund fürs Nichttrinken akzeptiert werden.)
Ersatzprodukte untermauern die Normalisierung, die diese Droge in unserer Gesellschaft erfährt.
Wenn es keine Normalisierung gäbe, dann bräuchte man auch keine Ersatzprodukte. Man braucht ja auch keine Ersatzprodukte für Zigaretten, oder für Koks. Man könnte einfach in aller Ruhe interessante Getränke entwickeln, ohne sich ständig auf das Eigentliche — also das alkoholische Ideal — zu beziehen.
Aber ganz abgesehen davon ist es natürlich ein guter Start, dass es endlich Bestrebungen gibt, auch alkoholfreie Drinks für Erwachsene herzustellen.
Fast 4 Mio. Frauen in Deutschland trinken zu viel, gleichzeitig ist die Stigmatisierung von Alkoholiker:innen so groß wie bei kaum einer anderen Erkrankung – woran liegt das und was kann man dagegen setzen?
Das Stigma ist über Jahrhunderte gewachsen. Einer der Gründe ist, dass man lange wenig über Abhängigkeit wusste. Viele Leute glauben immer noch, es handle sich um ein Problem der Willenskraft, das sich mit Disziplin lösen ließe. Und dass Sucht keine Krankheit sei, sondern eine Charakterschwäche. Ein moralisches Problem.
Stigma hat wichtige Funktionen: Es errichtet eine künstliche Binarität zwischen den “normalen” Trinker:innen und den Alkoholkranken, sodass sich die “Normalen” in Sicherheit fühlen. Stigma suggeriert, wir könnten uns durch Disziplin und Persönlichkeitsarbeit gegen Sucht immunisieren. Wenn wir das nicht schaffen, schämen wir uns und sind wirkungsvoll zum Schweigen gebracht, sodass die anderen uns nicht mehr wahrnehmen müssen. Stigma entmündigt die Betroffenen, sodass sie sich nicht mehr am Diskurs beteiligen wollen.
Das Mittel gegen Stigma: Aufklärung und Sichtbarkeit. Wir müssen viel mehr und offener über Abhängigkeit reden. Und besonders die Abhängigen und Ex-Abhängigen selbst müssen sich am Diskurs beteiligen. Nur so wird deutlich, dass Abhängigkeit jede:n treffen kann, völlig unabhängig vom Charakter. Und dass wir sehr viele sind.
It’s wine o’clock und Mommy needs a drink sind keine Zitate aus 60er Jahre Sitcoms sondern Memes, die heutzutage auf Social Media geteilt werden. Braucht Mutti ein Getränk, oder das Ende der Kita- und Bildungskrise in diesem Land?
Eigentlich ist diese Mommy Weinkultur ja einfach Neoliberalismus.
Wine Mom Memes sagen: Ich will Kinder haben und Arbeiten und Geld machen und auf Instagram geil aussehen und gleichzeitig gechillt und fun wirken, weil Frauen, die nicht gechillt und fun wirken, nicht sexy sind. Alkohol ist einerseits die Belohnung für dieses anstrengende Hochleistungsprogramm und andererseits das schmerzstillende Mittel, wenn man an diesem unerreichbaren Ideal mal wieder gescheitert ist.
Ab und an verirren sich hier noch Schwangere und Menschen mit Babys hin, liebe Grüße an alle Spätgebärenden, lieb euch! Aber ich würde sagen, der Großteil meiner Leserschaft hat zumindest Schulkinder. Ab wann reden wir mit unseren Kindern über Alkohol?
Ich bin keine Mutter, also kann ich nicht so gut derartige Ratschläge verteilen, aber ich weiß: Kinder merken alles. Schon Fünfjährige checken, wenn jemand angetrunken ist. Oder wenn der Vibe off ist. Sobald sie wahrnehmen können, das Erwachsene sich unter Drogeneinfluss verändern, haben Kinder meiner Meinung auch das Recht auf ehrliche Antworten.
Ich habe die nie bekommen, weder zuhause, noch in der Schule. Wir haben im Chemieunterricht Apfelwein hergestellt, aber ich habe kein Wort darüber gehört, was Abhängigkeit ist oder wie Alkohol oder andere Drogen im Nervensystem wirken.
Diese komplette Unwissenheit ist der Grund dafür, weswegen die meisten Erwachsenen heute im Bezug auf Drogen einzig und Allein auf der Basis von Gefühlen argumentieren.
Wusstest du zum Beispiel, dass reines Heroin im menschlichen Organismus deutlich weniger Schaden anrichtet als Alkohol? Oder dass man von LSD überhaupt nicht abhängig werden kann? Wahrscheinlich nicht.
Wir haben alle keine Ahnung und keine rationale Beziehung zu Drogen gelernt.
Es gibt ein Buch von Julia Pfannenstein und Anna Demchenko, das sich an Kinder mit alkoholkranken Eltern richtet. Darin wird Abhängigkeit kindgerecht erklärt.
Du hast dich mit Anfang 20 aus einer toxischen Beziehung befreit – was würdest du deinem jüngeren Ich gern sagen?
Ach, mein jüngeres Ich würde mir gar nicht zuhören. Sie ist viel zu cool. Es würde gar nichts bringen, ihr zu sagen: „Wenn es wehtut, ist es keine Liebe“ oder ähnliche Weisheiten alter Leute.
Ich würde ihr ein gutes Chili kochen, und ihr erzählen, ich sei das Medium aus „Matrix“ und könnte ihre Zukunft sehen, und ich würde ihr erzählen, was alles passiert, wenn sie nüchtern wird.
Dass sie den Typen mal so lächerlich finden wird, dass sie nicht glauben kann, dass sie dachte, sie braucht den. Dass es ihr mal vollkommen egal sein wird, ob sie cool ist oder nicht. Dass sie alles vom Leben kriegen kann, wenn sie aufhört, im Außen zu suchen. Dass alles, was sie will, sowieso schon da ist, dass sie sich gar nicht so anstrengen muss. Dass man nur die Sachen kontrollieren will, denen man nicht traut. Dass sie in zehn Jahren finden wird, dass sie heute absolut fantastisch aussieht und wirklich, wirklich nichts an ihrem Hintern ändern muss. Dass der Sex immer besser wird. Dass sie schon in wenigen Jahren diese Folterwerkzeuge von Highheels in den Müll schmeißen und nie zurückblicken wird. Dass alles besser wird.
Obwohl das nüchterne Leben nur Vorteile hat, warum hängen wir als Gesellschaft so hart am Alkohol?
Naja, nur Vorteile sind es ja nicht, zumindest erstmal nicht. Nüchternsein heißt, dass man immer alles wahrnehmen, immer alles fühlen muss. Dass man keinen Pauseknopf drücken kann. Das ist anstrengend. Besonders, wenn man ein Leben hat, indem man nicht schmerzfrei funktionieren kann, weil man dauerhaft überlastet ist.
Oder wenn man nicht weiß, wie man sich selbst emotional reguliert.
Und die meisten Leute haben eine wahnsinnig niedrige Toleranz für unangenehme Gefühle, weil der Alkohol bei jeder Schwierigkeit der Default ist. Nervös beim Date? Trink was. Sozial gestresst, du auf der Party niemanden kennst? Trink was. Schlechten Tag gehabt? Trink was.
Viele Leute lernen nicht, das Leben ohne Betäubung zu navigieren.
Daten und Sex waren zu Beginn deiner Nüchternheit eine Herausforderung für dich, woran liegt das?
In romantischen und sexuellen Beziehungen ist Trinken für sehr viele Leute eine emotionale Abkürzung; er enthemmt, macht locker, wirkt wie ein Katalysator für künstliche Intimität. Er verkürzt die Zeit, in der man sich einander fremd fühlt. Deswegen wird bei Dates so viel getrunken.
Wenn man auf dieses sogenannte soziale Schmiermittel verzichtet, dauert es oft länger, bis man sich entspannen und öffnen kann. Man nimmt alles intensiver wahr, auch peinliches Schweigen oder die Angst vor dem ersten Kuss. Man braucht mehr Geduld, mehr Selbstvertrauen, mehr Humor, stabilere Nerven. Und man kann sich niemanden mehr schönsaufen. Man muss sein Gegenüber tatsächlich schön finden.
Wie haben sich deine Freundschaften verändert, seit du nüchtern bist?
Um mich herum haben sich in den letzten Jahren immer mehr nüchterne Leute versammelt, ohne, dass ich gezielt nach ihnen gesucht hätte. Und nüchterne Leute (oder generell welche, die schon mal eine Existenzkrise durchgemacht haben) tendieren dazu, sich in der Tiefe mit sich selbst und dem Leben zu beschäftigen. Sie blicken furchtloser auf unangenehme Wahrheiten. Sie haben mehr Empathie mit anderen. Sie sind Überlebende, was ihre Bereitschaft für belanglosen Smalltalk stark abnehmen lässt.
Ich rede jetzt bei fast allen Mittagessen und Kaffeedates und Spaziergängen mit meinen Freund:innen über den Tod und die Liebe und den Glauben und unsere Kindheiten und den Sinn in all dem. Alle meine Beziehungen sind intensiver und tiefer geworden. Und das entspricht praktischerweise auch sehr meinem Naturell. Ich bin ein kleiner Grufti, ich mag es intensiv und tiefsinnig.
Ich habe, glaub ich, sehr viele Freundinnen, die nicht trinken und größtenteils noch nie getrunken haben. Manche von ihnen kommen aus Alkoholiker Familien, andere sagen, dass sie es einfach nicht brauchen. Die letzte große, Klischee Frage: Kann man ohne Alkohol Spaß haben?
Ja, kann man. Jeder gute Kindergeburtstag beweist das.
Alle Fotos: ©Phillip Zwanzig