Wenn ich Burnout höre, denke ich immer an Augenringe. Extreme, unwirkliche Augenringe, wie aus einem Comic. Tiefrot! Ich sehe eine zitternde, fertige Person vor mir, beschrieben durch klischeehafte Ausdrücke wie ‚Schatten ihrer Selbst‘ und ‚kurz vorm Abgrund‘.
Burnout ist, sehr unwissenschaftlich ausgedrückt, wenn man nicht mehr kann. Absolute Erschöpfung. Wir durften mit Helen Heinemann sprechen. Sie ist Burnout-Expertin und hat ein praktisches Sachbuch zum Thema geschrieben, welches Ende 2020 im Rowohlt Verlag erschien. Es gibt sehr viele praktische Anleitungen und Aufgaben zum Selbermachen.
Der Titel? ‚Irgendwas muss anders werden‘ – wie passend, denn wer von uns ist nicht entweder kurz davor, oder mittendrin in der Erschöpfung. Nur das ändern, das wird schwierig solange Pandemie ist. Oder?
Helen Heinemann gründete 2005 das „Institut für Burnout-Prävention“ in Hamburg. 2016 folgte die Gründung der „Heinemann Akademie“ zur Qualifizierung von Menschen in Führung, Beratung und Kursleitung für ein multimodales Stressmanagement. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Liebe Helen, stell dich bitte vor.
HH: Ursprünglich komme ich aus Hamburg! Ich muss sagen, ich hatte wirklich eine außerordentlich glückliche Kindheit, auf der eine aufregend rebellische Jugend folgte. Zunächst habe ich Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialpsychiatrie studiert und anschließend eine psychotherapeutische Ausbildung absolviert. Das war die Grundlage für alles, was danach kam.
Krisenintervention und Gesundheitsförderung interessierten mich damals schon. Meine überwiegend selbständige Arbeit in diesem Bereich zeigte rasch Erfolg und wurde intensiv durch diverse Kooperationspartner gefördert. So u. a. von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – BZgA, dem EU-Tacis-Programm für Osteuropa, dem Europäischen Sozialfond und bis heute von den großen deutschen Krankenkassen.
2012 erschien „Warum Burnout nicht vom Job kommt“ und 2015 folgte dann „Warum Stress glücklich macht“. Im letzteren veröffentlichte ich meine Erfahrungen aus dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement zum selbstbewussten Umgang mit Belastungen und Stress am Arbeitsplatz.
Und jetzt ist „Irgendwas muss anders werden“ erschienen. Darin zeige ich mit dem von mir entwickelten 5-Tage-Programm einen erfolgreichen Weg aus der Erschöpfung.
Alles was ich tue, habe ich mir selbst so gewählt und genieße es sehr; insbesondere meine große Familie mit den vier mittlerweile erwachsenen Kindern. Daneben versinke ich oft über Stunden und Tage in fernen Bücherwelten, gestalte mit großem Vergnügen gemeinsam mit meinem Mann unser Haus und unseren Garten, und nicht zuletzt liebe ich es, immer wieder neu für etwas zu brennen.
Ganz allgemein, was ist ein Burnout, und wie erkenne ich ihn?
HH: Burnout ist ein tiefgreifender psychosomatischer Erschöpfungszustand verbunden mit dem Verlust der Erholungsfähigkeit; Ursache und zentrales Merkmal ist eine emotionale Erschöpfung. Diese emotionale Erschöpfung nehme ich durch eine erhöhte Empfindsamkeit, sozialen Rückzug aber auch über eine erhöhte Reizbarkeit wahr. Der Verlust der Erholungsfähigkeit zeigt sich u. a. durch anhaltende Müdigkeit auch nach einer langen und gut durchgeschlafenen Nacht. Mangelnde Erholungsfähigkeit macht die Geschichte dramatisch, denn sie führt in einen Teufelskreis. Spätestens jetzt muss unbedingt was unternommen werden, damit es nicht nur der Familienfrau selbst, sondern auch allen anderen gut gehen kann und sie gesund bleiben.
Wie bist du Burnout-Expertin geworden?
HH: Mit vier Kindern, knappen Finanzen und einem geringen Zugriff auf spontane Hilfssysteme weiß ich sehr gut, was Erschöpfung ist. Erstaunt war ich allerdings über die Frauen, die aus ihrer Erschöpfung nicht mehr herauskommen konnten. Mich interessierte also zunächst einmal der Unterschied. In den ersten Seminaren habe ich daher einfach nur ganz viel gefragt und zugehört. Und da ich keine Freundin von Ratschlägen bin, habe ich dann gemeinsam mit den Frauen ihre ganz persönlichen Lösungsstrategien entwickelt. Zielführend war dabei der Wechsel des Blickwinkels: Auf was will ich zurückblicken können, wenn ich hundert Jahre alt bin. Darüber konnten die Frauen ihre Schwerpunkte neu setzen.
Dein Buch trägt einen Titel, bei dem es schwierig wird, zu widersprechen. Trotzdem: Was soll denn anders werden, und für wen
HH: Bei der Fülle an Aufgaben und Bedürfnissen, die eine Familienfrau wahrnehmen muss, verliert sie sich oftmals selbst aus den Augen. Wenn sie dann kurz vor dem Zusammenbrechen ist, kommt sie zu der Erkenntnis, dass irgendwas anders werden muss. Sie weiß aber noch nicht wie. Entscheidend ist, dass sie wieder einen Zugriff auf die eigenen Kraftquellen bekommt. Das ist aber nicht so einfach, denn dafür muss sie erst einmal wieder spüren können, was ihr selbst gut tut. Dieses Gefühl für sich selbst ist durch die Verantwortung für andere verloren gegangen. Es gilt also, sich selbst wieder zu entdecken.
Manchmal habe ich das Gefühl, Frauen haben nur eine Wahl: weniger/gar nicht arbeiten oder Burnout. Erst wenn sie eingeliefert werden, oder auf Kur sind, erkennt das Umfeld das Ausmaß der Situation.
HH: Die Erschöpfung von Familienfrauen hängt nicht von dem Ausmaß ihrer Erwerbstätigkeit ab. Manche Frauen erholen sich dort sogar von den familiären Ansprüchen. Entscheidend für die Erschöpfung ist der Verlust der eigenen Mitte durch die selbst formulierten hohen Ansprüche an sich und andere. Diese gilt es zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern. Der zweite Schritt betrifft dann die Kommunikation mit dem Umfeld und das selbstbewusste Vertreten der eigenen Bedürfnisse.
Wenn die Erschöpfung zu viel wird, was kann man denn überhaupt machen?
HH: Mein persönliches Motto: Man kann nicht alles auf einmal schaffen, aber man kann alles auf einmal liegenlassen. Das bedeutet, als allererstes eine Pause einzulegen, wenn ich merke, dass ich an meine Grenzen komme. Es gibt kaum etwas, das so wichtig ist, dass es nicht auch warten oder von anderen übernommen werden kann. Erste Priorität für eine gesunde Familie ist die Gesundheit von Mutter und Vater oder Mutter und Mutter. Wie im Flugzeug gilt auch hier: Im unwahrscheinlichen Fall eines Druckverlustes nehmen Sie selbst zuerst die Sauerstoffmaske, dann erst helfen Sie anderen.
Was sagt man zu dem berühmten Kommentar ‚Meine Oma hatte fünf Kinder und hat das auch alles hingekriegt:‘ Stinkefinger?
HH: Natürlich hat die Oma das hingekriegt. Die Frage ist allerdings: Wie? Zumeist ging die Alltagsorganisation auf Kosten der Kinder. Die mussten spuren und hatten wenig Möglichkeiten für eine persönliche Entfaltung. In Spuren läuft heutzutage ein Computer. Lebendige Menschen bereichern das Leben durch eine fröhliche Kreativität und Individualität. Diese zu entwickeln braucht Zeit und eine liebevolle Begleitung.
Dein Konzept ist von Krankenkassen zertifiziert. Wie würde das ganz pragmatisch ablaufen, wenn ich an so einem Seminar teilnehmen wollen würde? Wo fange ich an?
HH: Am besten geht ihr auf unsere Website www.ibp-hamburg.de oder schreibt uns an kontakt@ibp-hamburg.de. Da bekommt ihr alle Infos schön aufbereitet zugeschickt. Für TK-Versicherte ist das Seminar kostenlos. Alle anderen müssen leider dafür bezahlen. Glücklicherweise übernehmen gar nicht so wenige Firmen die Kosten für ihre Mitarbeitenden. Das ist auch klug, denn Studien haben ergeben, dass ein verlorener Arbeitstag insgesamt 200,- Euro kostet. Und bei einem Totalausfall kosten Akquise und Einarbeitung letztendlich ein ganzes Jahresgehalt.
Ersetzt dieses Buch das Intensiv-Seminar?
HH: Entscheidend ist der themenbezogene Austausch mit anderen. Das können auch Freundinnen sein, mit denen man sich für die jeweiligen Aufgaben zusammentut. Man könnte sich z. B. einmal die Woche für zwei Stunden – möglicherweise auch digital – treffen und dann über die jeweiligen Ergebnisse sprechen. Bis dahin muss man dann nur das entsprechende Kapitel gelesen und die kleine Aufgabe gemacht haben. Nicht alles auf einmal, auch mit kleinen Schritten kommt frau zum Ziel.
Wie gehst du damit um, in deiner Arbeit tagtäglich erschöpften Frauen zu begegnen?
HH: Am ersten Tag in der ersten Runde sehen die Frauen immer sehr fertig, oftmals richtig depressiv aus; viele weinen dann auch. Das ist bei den Belastungen, die sie nach und nach vortragen sehr verständlich. Von Tag zu Tag geht es Ihnen aber besser, die Haut wird rosiger und die Augen leuchten. Zum Schluss ist das ein fröhlicher Frauenhaufen voller Mut und Lebensfreude. Das ist so beglückend, dass ich diese anstrengenden Geburtsprozesse immer wieder sehr gern begleite.
Wann sollen (erschöpfte) Frauen die Zeit zum Lesen finden?
HH: Für mich persönlich ist Lesen immer ein Kurzurlaub, bei dem ich in eine neue interessante Welt eintauchen kann. Diese Zeit habe ich mir deshalb auch im größten Trubel genommen. Wer nicht so gerne liest, sollte das auch auf keinen Fall tun, sondern sich seine eigenen individuellen Erholungsmomente nehmen. Wichtig ist, dass die Familie lernt, meine persönlichen Zeiten zu respektieren, egal was ich dann mache.