Ein Buch über Reproduktionsmedizin, dystopische Elternschaft und Geschlechterverhältnisse. Puh, lest ihr auch gerne so easy Kram, wenn auf der anderen Seite schnell abrufbare Müll-Serien verfügbar wären? Ja, doch, manchmal hat man da Lust drauf.
Aber ich muss schon sagen, ‚Das weiße Schloss‘ von Christian Dittloff ist noch mal einen Ticken anspruchsvoller als sonst. Es ist einfach handwerklich gut, übelst gut recherchiert und so detailliert, dass ich mir denke, er muss doch mindestens eine Woche pro Seite gebraucht haben. Aber dann fällt mir ein: Christian hat ja keine Kinder…was man plötzlich alles schafft, wenn nicht permanent jemand etwas von einem will.
Ich treffe Christian zum Schnitzelessen im Dicken Engel in Moabit (als wir noch durften). Müsst ihr auch mal machen, außerdem mache ich immer gerne Werbung für Moabit, schadet niemandem, mal woanders zu flanieren. Birkenstraße, Freunde, Birkenstraße. Zumindest haben die Bayreuther Helles vom Fass, alleine dafür lohnt sich ein Besuch. Nun aber zu Christian und seinem Buch.

Hauptstadtmutti: Hallo Christian, stell dich doch mal vor!
Hi, ich bin Christian und lebe als Autor in Berlin. Zuallererst schreibe ich Romane. Ich arbeite darüber hinaus journalistisch sowie als freier Marketing-Berater. Ursprünglich komme ich aus Hamburg und habe dort einige Jahre direkt am Hafen gewohnt. Jetzt wohne ich am Tempelhofer Feld in Berlin Neukölln, Hauptsache der Blick hat ein bisschen Platz. Welche Stadt besser ist? Natürlich immer die, in der man lebt. Besonders wichtig sind mir: Freundschaften, meine literarische Arbeit, Liebe und Zeit zu haben. Im Sommer sind meine Partnerin und ich die Tour-Brandenburg gefahren: 1.000 Kilometer mit Fahrrad und Zelt rund ums Bundesland. Das war sehr unaufgeregt und friedlich und eine der schönsten Reisen meines Lebens.
Hauptstadtmutti: Normalerweise würd‘ ich die Mütter und Väter an dieser Stelle jetzt fragen, wie ihr Familienalltag aussieht. Wie ist das bei dir Christian, trinkst du den lieben langen Tag heißen Kaffee, gehst zu inspirierenden Treffen und läutest um 16 Uhr die Happy Hour ein?
Mein Alltag ist relativ unspektakulär und folgt keinem Drunken-Poet-Klischee. Ich stehe gegen 7 auf und starte gerne mit einer Schreibeinheit. Dann gehe ich eine Runde laufen und frühstücke im Anschluss, bevor ich in mein Schreibbüro gehe. Ich arbeite meist bis etwa 17 Uhr. Schön ist tatsächlich, dass das abendliche Vergnügen (Lesungen, Konzerte und Bier-Verabredungen oder während der Pandemie Spaziergänge) mit dem beruflichen Netzwerken und dem kreativen Austausch zusammenfällt. Ich bin sehr dankbar, dass ich gerade genau das tun kann, was ich möchte. Doch hin und wieder empfinde ich diese Gleichzeitigkeit von Arbeit und Freizeit als Nachteil. Denn während einer Schreibphase gehört ALLES zum Schreiben: Lesen, Sport, gesunde Ernährung, Schlaf und Selfcare hängen eng mit der kreativen Produktivität zusammen.
Hauptstadtmutti: Wie wird man Autor?
Man wird Autor durch eine Mischung aus Begabung und Übung. So wie auch bei anderen Berufen. Die größte Herausforderung für mich als Autor ist es, über zwei oder drei oder vier Jahre an einem Manuskript zu arbeiten, von dem ich nicht weiß, ob es je als Roman veröffentlich wird. Diese zähe Ungewissheit, ob man überhaupt Anerkennung und Geld für das künstlerische Schaffen erhält. Das gilt vor allem für das Debüt. Denn während dieser Phase hat man oft noch keine Agentur im Rücken oder einen Buchvertrag in Aussicht. Mit dem zweiten Buch wird es dann etwas einfacher.

Hauptstadtmutti: Wann schreibst du, wie schreibst du, hast du Tipps zu Selbstdisziplin? Oder wie man Deadlines schafft?
Für das Schreiben gibt es kein Erfolgsrezept. Man muss sich eine passende Struktur erarbeiten. Meine Struktur orientiert sich am 9-to-5-Job. Das hilft dabei nicht zu vereinsamen und synchron mit meiner Umwelt zu leben. Ich trenne zwischen Schreib- und Recherchephasen. Wenn ich recherchiere lese ich viel, unterhalte mich über das Gelesene mit Freund*innen und Kolleg*innen und notiere lockere Gedanken. In dieser Phase gehe ich gewöhnlich (ohne Corona) auf Lesungen und Konzerte oder treffe mich mit Leuten. Eine intensive Schreibphase dauert drei oder vier Wochen dauert. Dann arbeite ich sehr konzentriert und achte auf Schlaf, Ernährung und die Einhaltung von Routinen.
Die Deadlines für Romane liegen ja zum Glück meist in weiter Ferne, da Verlage lange im Voraus planen. Doch wenn die Deadline näher kommt, hilft für mich nur:
Jeden! Tag! Schreiben!
Dranbleiben, Im-Text-Bleiben, damit ich nicht wieder neu hineinfinden muss. In dieser Zeit kann ich auch keine anderen Bücher lesen, weil ich sonst mein eigenes Schreiben hinterfrage.
Familie, Kinder und Christian
Hauptstadtmutti: Gibt es Kinder in deinem Leben?
In meinem Leben gibt es viele Kinder und das schon lange: Ich hatte als Teenager eine Partnerin, die damals gerade Mutter geworden war. Diese gemeinsamen Jahre als eine Art Patchwork-Familie haben mich langfristig geprägt und früh bereichert. Im Laufe der Jahre sind auch viele FreundInnen Eltern geworden, und deren Kinder sind mir allesamt sehr wichtig. Ich genieße in diesen Konstellationen aktuell die schönen Erfahrungen aus der zweiten Reihe.
Hauptstadtmutti: Wie hat Corona dein Familienleben dieses Jahr beeinflusst? Hast du etwas neues gelernt, was du vorher über dich nicht wusstet?
Da ich selbst keine klassische Kernfamilie habe und leider auch kaum eigene Verwandtschaft, hat mir Corona vor allem eines gezeigt: Familie ist, was Du draus machst. Dadurch, dass ich nur sehr wenige Menschen gesehen habe und nicht wie sonst in größeren Zusammenhängen unterwegs war, habe ich nochmal neu, schmerzlich und herzlich (sorry) erfahren, dass freundschaftliche Beziehungen eine ähnliche Funktion wie die Familie haben kann.
Hauptstadtmutti: Hast du Tipps für schwangere Frauen oder frische Mütter? Haha, ich bin wirklich gespannt. Oder für werdende Väter?
Wie heißt es so schön: Ratschläge sind auch Schläge. Frische Eltern bekommen einen Haufen ungefragter Tipps. Alles was ich nach meinen Erfahrungen und der Romanrecherche sagen kann ist: Elternschaft ist kein starres Konzept. Elternschaft ist fluide und entwickelt sich and I think that’s beautiful! Mein Tipp ist, diesen Veränderungen mit Neugier zu begegnen und sie selbst herbeizuführen.
Elternschaft im weißen Schloss
Hauptstadtmutti: Du hast ein Buch geschrieben. Ich nenne es ein Buch über dystopische Elternschaft. Ist das so? Wie würdest du dein Buch beschreiben? (No Spoilers!)
Mein Debütroman „Das Weiße Schloss“ ist ein Roman über Kinderwunsch und Elternschaft in unserer Gesellschaft. Es geht um Liebe, Sexualität und dass Elternschaft das Selbstbild gehörig durchschütteln kann. Es geht es um das Paar Ada und Yves. Sie haben eine liebevolle Beziehung und führen ein erfülltes Sexleben. Doch sie fürchten die Unvereinbarkeit von Karriere, Liebe, persönlicher Freiheit und Elternschaft. Darum entscheiden sie sich für ein Kind auf dem Weißen Schloss. Das ist eine Art Internat, auf dem ausgewählte Berufsmütter Kinder austragen und erziehen. Die Auftragseltern können ihre Kinder besuchen.
Das mag nach einer Dystopie klingen, doch im Grunde arrangiere ich im Roman nur in Europa vorhandene Realitäten. Die Angebote externer Betreuung werden immer lückenloser und es gibt Reproduktionskliniken z.B. in Osteuropa. Diese beruhen aber auf struktureller Ausbeutung von ärmeren Gesellschaften. Das Weiße Schloss ist eine Art Bio-Version davon. Hier ist Mutterschaft ein gut bezahlter Beruf. Jede Mutter ist top ausgebildet, ernährt sich ganz im Sinne des Nachwuchses. Jeder Aspekt des Lebens ist dem Muttersein untergeordnet. Im Grunde erfüllt sie stellvertretend all die Aufgaben, die Müttern nach dem heutigen Ideal von Mutterschaft abverlangt werden.
Moderne Mutterschaft
Hauptstadtmutti: Wolltest du der modernen Mutterschaft einen Spiegel vorhalten? Sollen wir uns schämen, und denken, wenn wir so weitermachen, wird das alles so enden? Mit einem weißen Schloss?
Ich halte nicht Mutterschaft den Spiegel vor, sondern der Gesellschaft. Mein Buch kritisiert keine Mütter. Das steht mir nicht zu. Ich kritisiere die Unvereinbarkeit bestimmter gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen und insbesondere Mütter. Wie soll man das alles gleichzeitig sein: schön und erfolgreich und liebevoll und glücklich und tough und Mutter und auf ewig sportlich, sexy und entspannt? Wie soll das in dieser kapitalistischen und ungerechten Gesellschaft funktionieren, in der so präzise Vorstellungen davon existieren, wie man zu sein hat? Mich hat das Thema Mutterschaft interessiert, weil sich hier Geschlechterungerechtigkeiten besonders deutlich zeigen: Die Zuschreibung von Gendernormen, Karrierechancen, der Themenkomplex Mental Load, die Einmischung der Politik in den weiblichen Körper und und und. Das beginnt bei den ständigen Kommentaren von Verwandten und endet bei der Gender-Pay-Gap und der Elternzeitregelung 12 zu 2. Väter werden für jede elterliche Selbstverständlichkeit gefeiert. Mütter werden ständig kritisiert.
Ich begreife meinen Roman als literarisches Plädoyer für eine feministische Betrachtung von Mutterschaft und das diese vielfältig ist und sich im Laufe der Zeit immer wieder verändern kann. Wir brauchen eine Gesellschaft, die auch nicht der Norm entsprechenden Müttern mit Empathie begegnet. Es gibt erfüllte Mütter und überforderte Mütter, Supermoms, Karrieremoms, Singlemoms. Nicht alle haben dieselben Ressourcen und Bedürfnisse. Manche Mütter wollen unbedingt zu Hause bleiben und manche nicht. Manche bereuen es Kinder zu haben. All diese Varianten gelebter Mutterschaft dürfen nebeneinander stehen.
Danke, Christian Dittloff! Und danke dir für diesen schönen Abend, ich freu mich aufs nächste Bier!

Christians Tipps zu Berlin
Modelabels aus Berlin: Ich finde das Label HundHund toll, weil mir die entspannten Schnitte und die transparente Preisgestaltung fairer Produkte zusagen.
Berlin Liebe: Ich mag an Berlin, dass selbst die kleinste Subszene hier eine große Community hat.
Tipps für Berlin mit & ohne Kind: Ich wohne direkt am Tempelhofer Feld. Für mich und viele andere wurde der Ort während der Pandemie zum persönlichen Garten, in dem man den Sommer über mit Abstand und in jeder Konstellation gut für sich sein konnte. Die Kinder können rumlaufen, während man Pizza auf großen Picknickdecken isst.
Coole Kinderbücher: Ich verlasse mich gerne auf die Empfehlungen von Buchhandlungen wie Ocelot oder dem Buchhafen. Auch toll ist die Plattform Diversity is us wo einem Kinderbücher unter bestimmten Aspekten der Diversität vorgestellt werden.
Im Laufe der letzten Jahre besonders begeistert haben mich die folgenden Bücher: „Funklerwald“ von Stefanie Taschinski handelt von einem Waschbärenjungen, der im Wald ein neues zu Hause sucht, obwohl die anderen Tiere keine Neulinge mögen. Aber dann entstehen natürlich bezaubernde Freundschaften! Das Buch ist wahnsinnig fantasievoll und poetisch geschrieben und nimmt seine LeserInnen (zwischen 8 und 10) sehr ernst. Aktuell beschäftige ich mich viel mit kritischer Männlichkeit.
Unter diesem Aspekt finde ich zum Beispiel toll: „Julian ist eine Meerjungfrau“ von Jessica Love. Julian sieht in der U-Bahn drei glitzernde fancy Nixen und ist fortan absolut begeistert davon, sich selbst als Meerjungfrau zu verkleiden.
Und zu guter Letzt: „Die besten Beerdigungen der Welt“ von Ulf Nilsson. Drei Kinder gründen ein Beerdigungsunternehmen, um Hummeln und Mäusen und anderen kleinen Tieren die besten Beerdigungen der Welt zu ermöglichen. Das ist so witzig und warm und berührend. Am meisten gerührt hat mich der kleine Ich-Erzähler, der den Tieren herzzerreißende Gedichte zum Abschied mitgibt.