„Na, dann wollen wir mal sehen, ob du dein Normalgewicht wieder erreicht hast“, sagt Chris Evans, Moderator der Late Night Show und holt eine Waage hervor. Zu Gast: Victoria Beckham. Es ist 1999 und Victoria hat vor ein paar Wochen Brooklyn zur Welt gebracht. Ich starre auf den Laptop. Die Szene ist Teil der ARTE-Doku über die Spice Girls und heute, 2023, ist es für mich unvorstellbar, dass eine prominente Frau im Fernsehen quasi gezwungen wird, sich zu wiegen. Victoria fühlt sich sichtlich unwohl, aber spielt das Spielchen mit. Genau wie ihre Bandkollegin Geri Halliwell einige Wochen vorher. Vielleicht hat Chris Evans ein Ding mit Frauen wiegen, vielleicht waren es aber auch einfach die 90er Jahre. Beim Schauen der Doku wird mit – nicht nur in der Talkshow-Szene – bewusst, mit welchen toxischen Körperbildern und ganz selbstverständlichen Bewertungen von außen, ich aufgewachsen bin. Die Spice Girls waren nicht nur wegen ihrer Körper ein Thema. Eine reine Frauenband, die so erfolgreich ist, sich nach einiger Zeit sogar von ihrem Manager trennt und ihr Ding allein durchziehen will, all das fanden die zumeist männlichen Klatschreporter der brutalen britischen Presse mehr als gefährlich. Wie sehr alle Mitglieder der Spice Girls unter dem Druck, der Häme und den Schubladen gelitten haben, wird erst mehr als zwanzig Jahre später richtig deutlich.
Würde Klaas heute bei Late Night Berlin einer frisch gebackenen Mutter eine Waage vor die Füße stellen?
Mit Sicherheit nicht. Ist heute alles tippitoppi? Auch das mit Sicherheit nicht. Während ich feminstische Kolumnen tippe, ist auch in diesem Jahr wieder Oscarverleihung über die Bühne gegangen. Natürlich interessieren wir uns für die Gewinnerinnen und Gewinner, die kleinen Skandälchen, von denen es in diesem Jahr keinen gab (Grüße an Will Smith an dieser Stelle) und die Tränen, die auf der Bühne vergossen werden. Aber wofür wir uns in der Award-Season interessieren, sind die Looks. Und auch hier geht es für viele Medien nicht darum, die Menschen – oder vor allem die Frauen – zu feiern, ganz egal, wie sie aussehen. Sondern darum zu vergleichen. Wer trug was. Wer trug es besser? Was sah glamourös aus? Was tat gar nichts für die Schauspielerin? In den letzten Jahren fühle ich mich immer unwohler dabei, dieses Bewertungsgame mitzuspielen. Wen interessiert mein Eindruck zum Outfit, wenn die Schauspielerin selbst es gefühlt hat?
Stichwort Schauspielerin. Und nochmal zurück in die 90er Jahre. Aktuell läuft bei Netflix die Dokumentation „Pamela: Eine Liebesgeschichte“ über das Leben von Pamela Anderson. Und auch hier erschrecke ich mich, wie mit der Schauspielerin vor laufender Kamera oder in Zeitschriften umgegangen wurde. Wie oft sie unverfroren auf ihre Brüste angesprochen wurde. Um Empfehlungen vor Schönheitschirurgen gebeten wurde, genau auflisten sollte, wie oft was gemacht wurde. Natürlich war ihr Aussehen ihr Kapital. Aber ist es deswegen ok, andauernd nur jenes zu thematisieren. Anderson engagiert sich für zahlreiche Themen, sie hat mehr Rollen gespielt als nur die Lebensretterin bei Playwatch. Aber das Einzige, was die Leute interessierte, war ihr Körper. Komplett absurd wird es dann, als die Doku über die Geschichte des Sextapes mit Tommy Lee berichtet. Das Tape, das aus dem hauseigenen Safe geklaut und danach ohne Zustimmung von Anderson und Lee veröffentlicht wurde. Das Anderson mehr denn je den Stempel der aufmerksamkeitsheischenden Schlampe aufdrückte. Anderson klagte gegen die Leute, die das Tape veröffentlicht hatten und musste sich vor Gericht die sexistischsten Argumente der Gegenseite anhören. Unter anderem sei sie nicht im Recht, sich gegen die Veröffentlichung des Tapes zu wehren, da sie ja nackt im Playboy gewesen sei – damit habe sie die Selbstbestimmung über ihren Körper eh abgegeben. Sie beendete die Klage, auch weil sie hochschwanger war und durch den Stress nicht ihr Kind verlieren wollte.
Ich bin in den 90ern aufgewachsen.
Mit all diesen Bildern im TV, all diesen Geschichten über Frauen. Mit dem sogenannten Heroin Chic in den Zeitschriften, die ich so geliebt habe und dem andauernden Gedanken, dass ich auf keinen Fall so aussehe. Und dass das etwas Schlimmes sei. Mein Körper, mein Gesicht, meine Brüste – alles nicht gut genug, weil nicht so wie auf den Bildern. Diese Dokus haben mir vor Augen geführt, mit welcher Selbstverständlichkeit wir Frauen gewertet haben, ihnen ihre Selbstbestimmung abgesprochen haben und das Bild aufrechterhalten haben, dass das größte Ziel sei, diese Körperform zu erreichen, denn nur dann sei man sexy. Und sexy gleich erfolgreich und begehrenswert. Dass mein Körper dieses vermeintliche Ideal nie erreichen könnte, das kam mir damals nicht in den Sinn.
Fünfundzwanzig Jahre später kennen wir die Konzepte von Body Positivity oder Body Neutrality. Social Media hat uns die Diversität von Körpern und Körperbildern nähergebracht und uns viele neue Role Models geschenkt.
Aber ist heute wirklich alles besser?
Ich habe mich erschrocken, als ich mir die aktuellen Bilder der Laufstegtrends angeschaut habe. Von der kurz gefeierten Diversität scheint nichts mehr übrig zu sein. Plötzlich sind alle wieder extrem dünn. Als wäre nicht nur die Kleidung schnelllebigen Trends unterworfen, sondern auch die Körper, die sie umhüllt. Und selbst mit fast vierzig brauche ich einen Moment, um mir selbst deutlich zu machen: Du brauchst das nicht. Du brauchst diesen Vergleich nicht. Du bist ok, wie du bist.
Du bist ok, wie du bist. Bin ich das wirklich? Warum nutze ich dann Filter? Gesichtsglättende, weich machende, jünger zaubernde Filter auf Social Media, die vermutlich in fünfundzwanzig Jahren meinen Sohn beim Schauen einer Doku so ungläubig zurücklassen wie heute mich bei den Dokus über die 90er. Kaum jemand erscheint heute in den sozialen Medien so wie er oder sie wirklich ausschaut. Zuletzt haben wir das bei Tiktok gesehen und dem unfassbar erfolgreichen Filter „Bold Glamour“. Mit dieser KI siehen alle aus wie reif für den champagnerfarbenen Teppich.
Bold Glamour macht euch normschön, hebt eure Wangenknochen, schminkt euch ein wenig und verzaubert euer Gesicht in ein Abziehbildchen der Schönheitsindustrie. Dabei wirkt das Ganze inzwischen so echt, dass man beim Blick ins echte Gesicht richtig enttäuscht sein kann. Ach, ich bin gar kein Hollywoodstar, der morgens zwei Stunden in der Maske saß?! Das ist übrigens nicht nur ein Gefühl. Unterschiedliche Studien haben herausgefunden, dass Filter in den sozialen Medien die Zufriedenheit mit dem eigenen Äußeren, vor allem unter jungen Nutzerinnen und Nutzern, negativ beeinflusst. Und dass Social-Media-Nutzung allgemein zu einem negativen Körperbild beitrage. Überraschung.
Hat sich also gar nicht so viel im Vergleich zu den bösen 90ern geändert?
Ich nutze Filter obsessiv. Die lustigen, die mir sagen, welcher Käse zu mir passt (Camenbert) oder die mir Smileys wie Sommersprossen ins Gesicht zaubern. Aber auch die, die meine Haut weicher machen, die Rötungen verschwinden lassen, meine Lippen ein bisschen aufpolstern und mich insgesamt wacher erscheinen lassen als ich eigentlich bin. Als ich zuletzt nach meiner Corona-Infektion in einem Call in der Kamera erschien, sagte eine andere Teilnehmerin: „Na, du siehst aber noch nicht fit aus.“ Ich war fit. Ich war bloß ungeschminkt. Und über meinem Gesicht lag keine künstliche Intelligenz, die mich vor anderen zehn Jahre jünger machte. Ich sagte: „Ich bin nur nicht geschminkt.“ Und es legte sich eine kurze Ruhe über den digitalen Raum.
Ich werde dieses Jahr 40 Jahre alt und ich bin ein außergewöhnliches Exemplar meiner Branche. An mir ist nichts gemacht. Nichts. Meine Lippen, meine Augenlider, meine Wangen, meine Nase – alles original, made in 1983. Ich habe Glück, weil nix davon aussieht wie made in 1983, aber ist das Glück? Oder ist es einfach nur ein gesellschaftliches Problem, dass ich dieses Glück haben muss, um immer noch vor Kameras herumspringen oder auf Bühnen moderieren zu dürfen. Was mache ich, wenn das alles mal nicht mehr so aussieht? Wenn Concealer keinen Tag mehr retten kann? Darüber mache ich mir Gedanken und dann ärgere ich mich, dass ich mir darüber Gedanken mache.
Im Februar hat die Schauspielerin Gesine Cukrowski gemeinsam mit der Journalistin Silke Burmester die Initiative „Let’s Change The Picture“ gestartet. Sie fordern die Filmbranche auf, auch Geschichten von Frauen über 47 zu erzählen. Denn so ehrlich muss man sein: Alte Frauen tauchen in der Medienlandschaft fast noch seltener auf als Menschen mit Behinderungen. Es gibt sie nicht. Zumindest nicht öffentlich. Sie dürfen weder töten, noch lieben, noch Abenteuer erleben. Manchmal geben sie einen Ratschlag oder sagen drei Sätze als die böse Stiefmutter, aber der Raum für ältere Schauspielerinnen ist klein. Und da sind wir wieder bei der Oscarverleihung. In diesem Jahr wird Michelle Yeoh als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Und das nicht nur als erste asiatisch-stämmige Schauspielerin überhaupt, sondern auch als 60jährige. Bei ihrer Dankesrede reißt sie ihren Arm nach oben und jubelt: „Ladys, lasst euch niemals einreden, dass eure Zeit vorbei ist. Gebt niemals auf!“ Am gleichen Abend wird Jami Lee Curtis als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet. Sie ist vierundsechzig. Mit über sechzig sind die Zeiten noch lange nicht vorbei.
Das müssen wir jetzt nur noch der Gesellschaft und den Medien beibringen.
Uns mit Hilfe von Filter frischer und jünger zu machen, hilft dabei sicher nicht. Aber ist es meine Verantwortung mein müdes, faltiges Gesicht in die Kamera zu halten, damit sich etwas ändert? Oder wäre ein Kennzeichnungspflicht eine Lösung? Aktivistin und Youtuberin Silvi Carlsson forderte schon im letzten Jahr mit einer Petition, dass Filter und Retusche in sozialen Medien gekennzeichnet werden sollten. Sie lösten immensen Druck aus und schadeten der mentalen Gesundheit. Die Gleichstellungsbeauftragten der Länder sehen das ähnlich und fordern seit letztem Jahr eine Kennzeichnungspflicht für bearbeitete Bilder und Videos mit Filtern. Diese solle vor allem für kommerzielle Tätigkeiten und Influencer*innen mit mehr als 10.000 Followern gelten. In Norwegen gibt es das schon seit 2022. Sowohl in klassischen als auch in sozialen Medien müssen Bilder und Videos gekennzeichnet werden, wenn das Aussehen von Personen geändert wurde.
Eine Kennzeichnungspflicht erscheint mir wichtig und richtig. Aber das Allheilmittel wird auch sie nicht sein. Natürlich bin ich mir jetzt schon bewusst, dass keine Werbeanzeige, die ich sehe, unbearbeitet ist. Unter Druck gesetzt fühle ich mich trotzdem ab und an. Und natürlich würde eine Kennzeichnung diese Täuschung noch einmal mehr hervorheben – vor allem für junge Nutzerinnen und Nutzer. Aber wir sehen trotzdem weiterhin die mehr als perfekten Bilder. Was uns ins Auge springt, sind die nicht Kennzeichnungen, sondern die weißen Zähne, die vollen Lippen, das glänzende Haar. Es reicht also nicht, eine kleine Anmerkung an immer noch Unerreichbares zu heften. Was wir ändern müssen, sind unsere Gedanken. Unser Bild von uns und von anderen. Wovon wir uns lösen müssen, ist die Bewertung von anderen. Akzeptanz wäre ein Ziel. Wir müssen nicht alles abfeiern, was wir sehen. Aber wenn mein müdes filterloses Gesicht auf dem Bildschirm auftaucht, ist es einfach ein müdes, filterloses Gesicht – und das ist ok. Statt zu bewerten, könnte man dann fragen: „Wie geht es dir?“ Und ich könnte immer noch entscheiden, ob ich sage, ich sei wirklich müde, das sehe man ja sicher oder ob ich nicht drüber sprechen möchte.
Die Autorin und Geschäftsfrau Melody Michelberger hat mir in einem Interview mal verraten, dass sie in ihrer PR-Firma eine goldene Regel hat, an die sich alle halten: Wir reden nicht über andere Frauen. Natürlich tun sie das trotzdem. Sie reden im Guten über andere Frauen. Wie klug diese sind, was sie sagen, was sie tun. Aber sie reden nicht über das Aussehen. Sie bewerten nicht mehr. Und diese Regel habe dazu geführt, dass sie im Alltag selbst auch nicht mehr bewerte, wenn sie andere Frauen sehen.
Manchmal frage ich mich, ob die Spice Girls oder Pamela Anderson heute anders berühmt wären. Ob andere Eigenschaften an ihnen hervorgehoben werden würden als ihre Körper, ihr Gewicht und ihre Kleidung. Und – das ist jetzt ein bisschen desillusionierend – aber ich glaube: Nein. Leider ist es für Frauen immer noch zu wichtig, wie sie aussehen. Leider ist unser Verständnis von vermeintlich wertvollen Körpern, von Körpern, die es verdient haben, prominent zu sein, immer noch kolonialistisch und von sehr alten Normen geprägt. Niemand würde eine Victoria Beckham heute in aller Öffentlichkeit auf die Waage stellen. Aber dass sie selten lächelt, ist beispielsweise immer noch ein Thema. Wir reagieren überrascht, wenn sich Pamela in ihrer Doku vermeintlich ungeschminkt zeigt und das in ihrem Alter. Was soll das überhaupt heißen?
Ich habe mir mal vorgenommen, kleine Mädchen nie als erstes dafür zu loben, wie sie aussehen. Niemals als erstes zu sagen, wie niedlich oder schön ich sie finde. Weil das nicht das erstrebenswerteste Ziel eines Mädchens sein sollte.
Und ich habe mir vorgenommen, meinen Körper niemals negativ vor meinem Kind zu bewerten. (Den eigenen Körper an sich niemals negativ zu bewerten, wäre natürlich optimal – ich bin auf dem Weg.) Weil ich glaube, dass so viele Diskurse und Kennzeichnungen haben können, wie wir wollen. Wenn wir nicht vorleben, dass wir doch etwas aus den 90ern gelernt haben, dann ändert sich nie etwas. Und wer in ihrem eigenen Körper zuhause ist und sich wohl fühlt, die kann sowohl mit Filtern spielen als auch gefilterte Bilder anderer anschauen, ohne sich unter Druck gesetzt zu fühlen. Aber bis dahin seid euch gewiss: Ich bin Ninia und fast alles, was ihr von mir seht, entspricht nicht der Wahrheit. I never woke up like this.
Ninia LaGrande findet ihr auf Instagram unter @ninialagrande oder auf ihrer Website.Zusammen mit Nina Meyer macht sie den Podcast Zirkus Sideline.
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