Ihr seid gerne Mutter? Ihr seid stolz auf eure Kinder? Ihr möchtet oft genug mit euren tollen, klugen, wunderschönen Kindern angeben, oder? Aber: Habt ihr euch auch schon mal für sie geschämt? Weil sie zum Beispiel politisch inkorrekt waren?
Habt ihr auch schon mal so getan, also ob das gar nicht eure Kinder wären? Nicht, weil sie die Wand im Café mit Wachsmalstiften verschönerten oder im Supermarkt anfingen, die Schokolade aufzumachen und zu vertilgen. Nein, weil sie ihre Klappe nicht halten konnten und etwas gesagt haben, was euch so peinlich war, dass ihr am liebsten weggelaufen wärt. Eure Kinder können noch nicht sprechen? Seid froh!
Es ist das schlimmste Gefühl auf der ganzen Welt: Das eigene Kind sagt in der Öffentlichkeit das krasseste, schrecklichste, vielleicht sogar rassistischste, was man sich überhaupt vorstellen kann. Man möchte im Boden versinken. Man möchte nicht mehr existieren. Denken jetzt alle anderen, dass wir gegen Ausländer sind? Wir predigen doch Toleranz und Akzeptanz und Nächstenliebe zu Hause! Wo hat das Kind das nur her?
Oder das Kind beginnt, die Körper der Eltern zu entdecken, und zu bewerten. Aber wir predigen doch Body Positivity zu Hause! Dass alle Körper schön sind! Dass jeder anders aussieht und dass das ok ist! Dass es Menschen im Rollstuhl gibt und Menschen, die nichts sehen können und Menschen, die dicker sind und dass, nochmal, alle Körper etwas Besonderes sind und schön! Wo hat das Kind das nur her?
Wir haben mal tief in der Erinnerungskiste gegraben. Hier sind die Highlights aus unserem Leben mit politisch inkorrekten Kindern. Zum Schreien, Schämen und Todlachen. Habt ihr euch auch schon mal für eure politisch inkorrekten Kinder geschämt? Schreibt uns, wir freuen uns!
Der Klassiker: die versteckte Beleidigung
„Mama, dein Po ist so schön weich!“ Wahlweise auch „Auf deinem Bauch kann man so gemütlich liegen!“ oder „Wenn du winkst, wackelt dein ganzer Arm!“
„Mama, ich find dich besser als ich dachte.“ Danke.
„Mama, du hast so große Zähne. Zwei. Darf ich die anfassen?“ Nur wenn ich dich beißen darf.
Auch immer wieder schön: Das morgendliche Anziehen, das abendliche Duschen oder mal ins Schwimmbad gehen. Man möchte ja auch, dass das Kind eine gesunde Beziehung zum eigenen Körper entwickelt und auch den Körper der Eltern wahrnimmt und nicht mit Schamgefühl verbindet.
Doch dann: Eine unserer Mamas duschte letztens mit ihrem kleinen Sohn. Er guckt sie an. Er guckt sich an. Er guckt sie an. Er guckt sich an. Und dann: „Iiihh!“
Selber Schuld, wer das eigene Kind fragt: „Bin ich eigentlich dick oder dünn?“ Die Antwort: „Natürlich bist du dick.“ Ehrlichkeit währt am längsten. Vielleicht ist dick auch einfach keine negative Eigenschaft für viele Kinder. Manche Menschen sind halt dick, so wie der Himmel blau und Kakteen stachelig sind. Wenn das Kind dann aber dennoch durch den ganzen Zug schreit „Boah Mama, der braucht ja zwei Sitze!“, wenn sich ein besonders korpulenter Mann hinsetzt, dann setzt sehr schnell das absolute Schamlevel ein, hoch tausend. Das Kind fasziniert, die Mutter fertig mit der Welt.
Gibt es eine Stummtaste für Kinder im öffentlichen Nahverkehr?
Überhaupt Zugfahren. Wäre schön, wenn man da bei Kindern irgendwie die Stumm-Taste finden und betätigen könnte. Zu Hause immer nur „In der Kita/Schule war es gut“, „das Essen ist gut“, „die Kinder sind nett“ und auf Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln denkt das Kind dann, es liegt auf der Freudschen Couch und muss wildfremden Menschen mal ganz genau erklären, wie das so zu Hause ist.
Eine von uns Hauptstadtmuttis ist da auch mal etwas Grandioses passiert. Mit vier Geschwistern und der Mama (bzw. jetzt Oma) in der Bahn gesessen. Da fragt ein anderer Fahrgast, wo denn der Papa wäre. Da fängt der Jüngste der Familienbande an zu erzählen. Dass es keinen einen Papa geben würde, dass jeder einen anderen Papa hat, dass es da Verwechslungen gab, bei manchen Geburtsurkunden. Fünf Kinder. Fünf Papas. Eine Mama, die vor Schamgefühl kurz davor war, aus dem Fenster zu springen und ein neues Leben in dem jeweiligen Kuhdorf anzufangen, an dem man gerade mit der Bahn vorbeifuhr.
Kinder sollte man ja gleich einfach zu Hause lassen. Eine unserer Mamas war mal mit ihrem sehr viel jüngeren Bruder in einem Café, wo zwei Männer saßen, die sich dann küssten. Es muss dazu gesagt werden, dass der Junge sehr, sehr tolerant erzogen wurde. Wirklich. Und dann sagt er: „Das ist doch nicht normal!“ Daraufhin reagierte das Pärchen sehr tolerant und fragte, was er denn daran nicht normal finden würde. Daraufhin er: „Muss ich dann auch einen Mann küssen, wenn ich groß bin?“ Nein Spatzerl, du musst gar nichts. Das ist ja das Schöne, such dir aus, wen du küssen möchtest.
Ich schwöre, unsere Familie ist nicht rassistisch
Besonders peinlich wird es ja, wenn unsere politisch inkorrekten Kinder rassistisch werden. WO HABEN DIE DAS NUR HER? WIR LEBEN DOCH IN BERLIN. SIE SEHEN JEDEN TAG DIE UNTERSCHIEDLICHSTEN MENSCHEN MIT DEN UNTERSCHIEDLICHSTEN HINTERGRÜNDEN, HAUTFARBEN UND SPRACHEN. Alle Kinder im Kindergarten sind bunt durcheinander gemischte wunderschöne Wesen mit Eltern aus allen Teilen dieser Erde oder halt Afro-Deutsche oder Deutsche mit asiatischem Hintergrund oder Aussiedler oder Kontingentflüchtlinge. Und trotzdem hören sich die Kinder manchmal an wie frisch vom AfD-Parteitag.
Manchmal ist es harmlos. Da macht sich der Sohn zunächst einmal nur Sorgen, als er eine schwarze Familie sieht: „Mama, die haben ja alle so verbrannte Nasen wie Lehrer Lämpel!“ Note to self: Weniger Bücher lesen, da kommt nichts Gutes bei rum.
Komplizierter wird es schon, wenn das Kleinkind zum ersten Mal bewusst einem schwarzen Mann gegenüber in der Bahn sitzt, der ihn anlächelt und der Junge tatsächlich so richtig das Heulen anfängt. So richtig-richtig. Geflennt. Mit Schreien und Auf-den-Schoß-Wollen. Herrjemine. Gut, dass der nette Mann es mit Humor nahm und das Kind sich auch wieder beruhigte.
Doch den krassesten Vogel hat einer der Jungs mal bei einem Waldspaziergang abgeschossen. Metaphorisch natürlich. Wir sind ja alle tierlieb, wir essen sie nur gerne (nur ab und zu, Bio und vom regionalen ethisch korrekten Bauernhof! Bitte keinen veganen Shitstorm!).
Auf jeden Fall sagt also der eine Sohn wie aus dem Nichts – und das ist jetzt ungelogen und wirklich so passiert (danke lieber Herrgott, dass es in der Privatsphäre und Abgeschottenheit eines Brandenburger Waldstücks passiert ist – „Hahahahhaa, wisst ihr was richtig witzig wäre. Also, so richtig witzig? Wenn ein Chinese behindert wäre!“ Und dann lachte er hysterisch, als ob es das Lustigste war, was ihm jemals hätte einfallen können. Like, ever.
BITTE WAS?
„Wie kommst du denn auf so etwas? Was meinst du denn? Was zum Teufel?“
–„Naja, wenn er doch eh schon lustig aussieht, und dann auch noch lustig geht, das wäre doch voll witzig.“
Die Unterhaltung und Erklärung, die dann folgte, zog sich bis in den Abend. Er kam wirklich einfach so darauf, dass er so etwas witzig finden würde. Fassungslosigkeit bei den Eltern. Und man selbst sagt und fragt sich, ist ja alles schön und witzig, und auch absurd, aber wie soll man da denn reagieren? Wenn die Kinder so politisch inkorrekte Sachen sagen?
Was tun, wenn Kinder politisch inkorrekt sind und es lustig finden?
Bei manchen Aussagen hilft es bestimmt, so zu tun, als hätte man es nicht gehört, und zu hoffen, dass das Umfeld einem das abkauft. Dann vielleicht zu Hause klären, dass es nicht unbedingt die ganze Welt etwas angeht, ob das Geschwisterkind einen anderen Papa hat als man selbst, oder dass man manchmal bei der Mama und manchmal bei dem Papa wohnt. Auch wenn das nichts Schlimmes ist. Aber es der Mama lieber ist, dass man das nicht mit fremden Leuten bespricht.
Bei allen anderen Sachen muss ich mich an mein erstes Treffen mit Raúl Krauthausen erinnern. Er ist Aktivist, Experte, was das Netz und alles Digitale angeht, und Gründer von Sozialhelden, mit denen er die Inklusion in Deutschland innovativ voranbringen möchte.
Er hat mir erklärt, dass Kinder für ihn nie ein Problem sind, sondern eher die Erwachsenen. Die Kinder wollen meistens wirklich einfach nur wissen, was der Mann denn hat, oder wieso er im Rollstuhl sitzt. Das ist zunächst ja nichts Schlimmes und nicht nervig, er sieht ja nun einmal wirklich anders aus und seine Stimme hört sich anders an. Viel schlimmer sei es, wenn die Eltern Dinge sagen wie: „Das ist ein ganz armer Mann, der ist krank, dem geht’s nicht gut, der sollte dir leid tun!“ Ihm wäre es lieber, die Eltern würden den Kindern erlauben, Raúl selbst zu fragen und ihn als eigenständigen Menschen zu begreifen, nicht als Opfer, das Mitleid verdient.
Dann können die Kinder meist viel besser begreifen, dass es wirklich verschiedene Menschen und verschiedene Körper gibt und dass daran nichts schlimm ist. Doch den Kindern den Mund zu verbieten oder zu sagen „Pscht, guck da nicht so hin!“, das ist für Raúl viel schlimmer.
Wisst ihr noch, als ihr euer erstes Kind bekommen habt und plötzlich auf barrierefreie Bahnhöfe, Gebäude und Restaurants angewiesen wart? Könnt ihr euch diese Frustration ein Leben lang vorstellen? Ich ärgerte mich immer, wenn ich mit Kinderwagen unterwegs war, über Menschen, die offensichtlicherweise auch die Treppe hätten nehmen können, aber lieber Fahrstuhl fahren wollten und ich so ewig warten musste. Ich ärgerte mich über viele Kinderbücher, in denen die Kinder meistens weiß und blond und gehend alles in ihrem Leben meisterten. Das spiegelte sicherlich nicht die Lebensrealität meines Kindes wieder, auch wenn er weiß, blond, gehend sein Leben meistert. Er hat ein Anrecht auf vielfältige Kinderliteratur und einen vielfältigen Freundeskreis. Deshalb startete Raúl zusammen mit Suse Bauer und Carina Kühne die Aktion #kunterbunteskinderbuch, schaut mal rein!
Noch ist mir nicht so viel peinlich. Letztens, im Bus, sah mein Sohn aus dem Fenster heraus ein großes gelbes Gefährt auf einer Baustelle. Also schrie er laut „Bagger!“, wie man das so macht, mit anderthalb. Da dreht sich doch ernsthaft der Mann vor uns um und sagt: „Das ist kein Bagger, das ist ein Zementmischer.“
Glaubt mir, in dem Moment hab ich mich nicht für mein Kind geschämt.
WO HABEN DIE DAS NUR HER?
Schade, wenn so ein wichtiges Thema so lächerlich gemacht wird. Schade. so lange die Autor_innen alleine aus einer privilegierten Perspektive auf die Welt gucken, sie sich lediglich mit ihrer Scham beschäftigen und nicht mit den real ausgrenzenden Diskriminierungen, die ihre Kinder ungewollt verinnerlicht haben und reproduzieren.
Statt lachen und abtun wäre eine Möglichkeit: kritisches Verstehen unserer Gesellschaft und aktiv werden. Zitat: „„Mama, die haben ja alle so verbrannte Nasen wie Lehrer Lämpel!“ Note to self: Weniger Bücher lesen, da kommt nichts Gutes bei rum.“
Nicht nur Bücher vermitteln Kindern, wer in dieser Gesellschaft „mehr“ und wer „weniger“ wert ist. Aber Kinder kritisch zu begleiten, damit sie das möglichst wenig verinnerlichen und lernen, sich dazu aktiv zu verhalten – das wäre was.