Der 30. Geburtstag meiner jüngsten Tochter stand kurz bevor. Seit 14 Jahren habe ich keinen einzigen Geburtstag mehr mit ihr gefeiert. Wohl gemeint, nur ihre Geburtstage, ansonsten war und ist der Kontakt eng, offen und liebevoll.
Sie ging in der elften Klasse für ein Jahr ins Ausland und kam nie wieder. Sie blieb schlicht und ergreifend in England, weil sie das dortige Schulsystem viel besser fand und schließlich ein Studium an der Elite Universität in Newcastle anhängte.
London calling, Oma!
Tag 1. Nach zahlreichen Überlegungen mit dem Rest der Familie, stand fest: ich fahre alleine nach London. Alle anderen hatten keine Zeit. Die ersten Überlegungen sahen so aus: erstmal in einem Superhotel absteigen. Locker an der Bar sitzen, teure Cocktails trinken, anschließend ins „German Gymnasium“ gehen, einer äußerst angesagten Location mit deutscher Küche und herzhaft in eine Käsekrainer beißen. Der nächste Morgen sollte nach einem Besuch im Spa des Hotels mit einem full English breakfast weitergehen, um so gerüstet für den Tag, eine ausgiebige Shoppingtour zu starten. Das war der Plan.
Alles nur geträumt? Ja!!! Zeiten ändern sich. Meine Tochter ist kein Teenager und in wenigen Stunden auch kein Twen mehr. Bis auf den herzhaften Biss in eine Käsekrainer, in einem der angesagtesten Restaurants Londons, kein Witz, wurde das Programm komplett gestrichen. Womit ich früher punkten konnte, ist vorbei. Freund und Hund warteten zu Hause und das Londoner Nachtleben: uninteressant! Mit einem weinenden Auge – in Erinnerung an frühere Zeiten und einem lachenden Auge – mein Rücken tat weh und ich war müde, ging es in die Gemütlichkeit der eigenen vier Wände.
Tag 2 und eine ‚zweite Mutter‘
Tag 2. Heute war der große Tag, der Geburtstag sollte in Form eines Birthday Dinners mit der Familie des Freundes gefeiert werden. Ein Pub an der Themse, vornehm, Fish&Chips standen nicht auf der Speisekarte, war nach langen Erwägungen ausgesucht worden.
Ich war aufgeregt. Meine Tochter hatte aufgrund der Pandemie sehr viel Zeit mit dieser Familie verbracht und war im Prinzip das adoptierte vierte Kind. Diese so unglaublich herzliche Aufnahme in die Familie ihres Freundes hat mich in den letzten pandemischen zwei Jahren sehr beruhigt und die Sorge um mein Kind stark verringert. Jetzt sollte ich sie also kennenlernen: die perfekte Mutter, die mir seit nun mehr zwei Jahren beschrieben wurde. Sportlich, schlank, gebildet, Golferin, weit gereist, eine Frau, die ein Wunderwerk an Dekorationen in ihren Häusern (mit jeweils drei Wohnzimmern) mit Leichtigkeit zustande bringt und überhaupt einfach nur nett und sympathisch ist.
Da ich meinen Lockenstab vergessen hatte, benutze ich den nagelneuen, von der Mutter geschenkten, Dyson Hairstyler meiner Tochter. Oh Schreck, meine Haare wurden wie von einem Turbo-Staubsauger eingezogen, die anschließende Frisur war gelinde gesagt etwas wild für mein Age. Das eingepackte Kleid zu eng, die Strumpfhose kaputt, es blieb mir nichts anderes übrig, als im Kleiderschrank meiner Tochter zu räubern. So ging ich also in grauer Flanellhose – zu eng – in teuren Stiefeln – zu groß und in einem gold glitzerndem, leider durchsichtigem Oberteil in den von der Familie wohl ausgewählten Pub, ohne Fish&Chips. Dafür mit Scallops, Cod, Sirloin und wirklich absolut fantastischen Nachspeisen mit so bezaubernden Namen wie Baked Alaska und der allseits beliebten Crème Brulée.
Die Begrüßung fiel gekonnt höflich, nicht zu freundlich, eben britisch aus. Und mir wurde schlagartig klar, es wäre unpassend gewesen, meinen Dank für die gute Fürsorge meiner Tochter in überschwenglich herzlichem Verhalten auszudrücken. Und dann ging’s los!
Nachdem wir am bereits wunderschön eingedeckten Tisch Platz genommen hatten, rollte „Mutter 2“ eine schimmernde Birthday Tischdecke aus; ein riesiger Luftballon auf dem die Zahl 30 prangte wurde gekonnt auf dem Tisch verankert und last but not least tauchte aus dem Nichts eine vierstöckige Buttercremetorte auf, die sich wie von Geisterhand in der Mitte des Tisches platzierte und nur so zur Bewunderung einlud. Diese drückte sich in lauten aaas, ooos und den immer wiederholten Worten, gorgeous, lovely, wonderful und great aus. Sie war great, ja sie war toll. Die Torte und die gesamte Familie auch.
Einen gelungeneren Auftakt hätte „Mutter 2“ nicht hinkriegen können. Das war gekonnt. Ehrlich! Ich fand’s toll, war überwältigt und platt. Mir wurde klar: meine Gedanken bezüglich „wie sehe ich aus, was ziehe ich an, reichen meine Sprachkenntnisse“ und so weiter waren völlig überflüssig. Hier ging die Post ab. „Mutter 2“ hatte es hervorragend inszeniert: heute Abend war mein Kind der Mittelpunkt. Beachtet, geschätzt, geliebt. Ich war very impressed und ja, ich gebe es zu, ein bisschen neidisch auch. Es war Geburtstagsfeier und vor allem auch eine Familienfeier. Das wars, das war der Knackpunkt.
Ein Anflug von Zweifeln
Da kam ich mir plötzlich einsam vor und die Defizite, das Fehlen der eigenen Familie war so spürbar, dass der Schmerz mich ansprang, umklammerte und ich am liebsten disappeared wäre. Doch dann bahnte sich langsam ein warmes Gefühl durch meinen ganzen Körper seinen Weg, besänftigend und tröstend. Die Freude meiner Tochter über diesen wundervollen Tag, wie glücklich sie war, mich an ihrer Seite zu haben, mit dem Freund gleichzeitig eine so warmherzige Familie gefunden zu haben, ließ jeden Hader und Zweifel verschwinden. Was blieb war der vertraute ziehende Schmerz der Wehmut über Verlorenes.
Zur Torte hatte „Mutter 2“ keineswegs die Kerzen in Form von diesen Wunderkerzen vergessen, auch nicht das Feuerzeug dazu. Ich hielt mich tapfer, lächelte, holte mein bestes Englisch hervor und sang Happy Birthday mit vibrierender Stimme ganz alleine auf deutsch.
Zwei Sträuße, zwei Torten, zwei Mütter!
Zur Vierstöckigen gesellte sich übrigens noch eine zweite, eine Schokoladentorte hinzu, zum Blumenstrauß ebenso und so waren es am Ende zwei Sträuße, zwei Torten und: ja, zwei Mütter.
Die Pandemie hat vieles verändert. Die Pandemie hat Dinge zum Vorschein gebracht, glasklar in ihrer Essenz und beinhart in ihrer Realität. Leben wir damit, machen wir aus den neuen Erkenntnissen künftig das Beste. Es lebe die Familie! So oder so, getrennt, gepatchworked, whatever – was zählt ist die Liebe!!!
Bettina Mennen ist eine glücklich geschiedene 62-jährige Oma, die uns aus ihrem Leben erzählen möchte. Sie lebt in Aachen, die Enkelkinder in Berlin.
Meine Berliner Enkelkinder und ich: Sommer in Berlin