Hauptstadtmutti

Vom Geheimnis, das in Herzen wohnt: mit einer Depression leben

Im Pandemiefrühjahr 2021 zeichnete sich ab, dass ich einmal mehr meinen Job aufgeben würde. Während insbesondere der freiberufliche Teil meines Berliner Kreises neidisch auf mein fast unkündbares, gut bezahltes Lehrerinnendasein im Angestelltenmodus blickte, wollten die anderen mich nicht mehr treffen („Virenschleuder!“ war noch eines der freundlicheren Zuschreibungen); manche schafften gar die Kombination. Niemand wollte sich vorstellen, den Job auszuüben. So beneidenswert war das Lehrkraftleben dann doch nicht.

Eines langen Mittwochvormittags fand ich mich mit Tränen kämpfend vor einer meiner Klassen wieder. Wir besprachen Auszüge aus Michael Endes „Momo“. Mein Stundenziel sah vor, die Kids zu erinnern: an das Geschenk des Zuhörens als Raum, in dem sie alles finden, das sie suchen und benötigen, weil sie sich dort selbst begegnen; an die Schätze, die sich in leisen wie zwischen Tönen, sogar in Stille verbergen und die es zu entdecken gilt, da sie selbst welche sind. 

Arbeitsblätter oder das Befinden der Kinder?

Vor dem Hintergrund sich täglich höher türmender Arbeitsblätter, Stundenausfall und Wechselmodellen aus Online- und Präsenzunterricht ohne Erlass irgendwelcher Inhalte und zunehmend blasser, traurig wirkender Kinder, erklärte ich die Arbeitsblätter für zweitrangig hinter ihrem Befinden. Erst die Beziehung, dann die Arbeit. Konjugationstabellen können warten, eine Seele nicht. Warum sollte sie auch? Damit stand ich recht allein auf allen Schulfluren. Dennoch blieb ich dabei, denn ich wollte ihnen diesen Vorgeschmack auf unser durchkapitalisiertes, rücksichtsloses System unbedingt ersparen. 

Zeit ist das, was man sich nimmt, um sie mit jemandem oder etwas erfüllend, bereichernd zu gestalten; sie ist endlos weil fließend wie das Leben selbst. Das war mein Ansatz. Ich wollte sie darin ermutigen, sich niemals einreden zu lassen, man könne Zeit sparen, verkürzen, vermehren, wiederholen. Dass bei allen sinnvollen Plänen und Absichten für die Zukunft doch die, die ihren Grund für das Heute ausschließlich im Morgen suchen, über kein Jetzt verfügen. Dass aller Geiz in diesem Kontext nur zu mehr Hast und vor allem weniger Zeit führen wird, zum sich selber Jagen und verlieren und dem tatsächlichen Sein hinterherrennen.

Denn für uns ist und bleibt sie bei aller fließenden Fülle begrenzt: Der Tod ist dem Menschen gesetzt. Dieses Leben ist einmalig und einzigartig, ein Geschenk. Wieso geben wir uns solch große Mühe, es wie eine Strafe zu erleben?

Ich wollte vermitteln, dass die in unsere Herzen gepflanzten Träume und Sehnsüchte zum Realisieren gemeint sind, die uns anvertrauten Töne zum Klingen gebracht werden wollen, und zwar mit jedem Atemzug, also deutlich vor der Rente; – als es mir die Kehle zuschnürte, denn mir wurde bewusst, dass ich selbst Verrat begangen hatte: an mir, meinem Sehnen. Ich wollte nie etwas anderes als schreiben. Bevor ich wusste, wie man einen Stift zum Schreiben hält, wurde mir vorgelesen; darin lag mein Himmel, bis heute sind Bücher mein Segen. Mir ist Literatur Heimat. Dort wollte ich immer sein. 

Doch an alles, das man wagen will, muss man zunächst selbst glauben.

Man muss es sich als reale Möglichkeit vorstellen können. Daran scheiterte ich lange und ging so allerhand Wege, die mich wiederholt in Depressionen brachten. Es waren Schritte gesetzt aus Angst und Unsicherheit, gelernten negativen Mustern, kombiniert mit gewohnheitsmäßigem mich leugnen und verbiegen. Doch in dieser Deutschstunde, mit Eichendorffs Wünschelrute im Hinterkopf und zwischen Momo, die mir half, mich selbst wieder zu hören, Erinnerungen an alte Schwüre und den Kids meiner Klasse schmerzte es so sehr, dass es gut tat, weil es endlich genug war.

Es stimmt also auch für mich: Wir wiederholen unsere Kreise und Erfahrungen so oft, bis wir es endlich kapieren, die Lektion verstehen und uns ändern. Die Pandemie und das absolute Versagen aller Verantwortlichen auf politischer Ebene halfen mir dabei, den Weg schneller zu gehen. So gesehen: Danke, Frau Scheres, für Ihre miserable Arbeit.

Wie ich meine Lektion kapierte

Ich kündigte und beschloss, mir ein Jahr zu geben, in dem mein Lebenstraum Vorrang haben sollte. So begann ich, mein Manuskript zu schreiben bzw. fortzusetzen. Aus der ersten, auf Schreibmaschine getippten Seite, die ich seit Jahren in der Schublade meines Schreibtisches versteckt hielt ohne sagen zu können, wen oder was ich dort vor wem bewahrte, wurden rasch die ersten 15, dann 20 Seiten, innerhalb weniger Wochen hatte ich 80 verfasst. Mein Thema stand vor dem ersten Buchstaben fest: eine brandenburgische Klinik, in der Menschen mit psychischem Leid wie Depressionen und Suizidplänen zusammentreffen, erzählt in galgenhumorig bittersüß. Depressionserfahrene verfügen oft über eine enorme und sehr eigene Portion Humor. Bis dato halte ich den humorvollen Weg für besonders hilfreich beim Begegnen von Tabus; er erleichtert das Sprechen kolossal, wie mir selbst beim Wettbewerb und seitdem jeder Lesung bestätigt wird.

Depressionen sind ein weites Feld mit vielen Ursachen. Sie zeigen sich auf mannigfaltige Arten und Weisen, werden von den Betroffenen verschieden erlebt. Neben individuellen Schicksalsschlägen die aus der Bahn werfen, gibt es strukturellen Rassismus, existiert Homophobie, wirken Trauma der Kindheit fort und gar über Generationen hinweg. Auch davon berichten meine Figuren. Trotz oder vielleicht aufgrund all des Schmerzes ist das Hauptanliegen des Buches dies: Hoffnung.

Wenn ich von Hoffnung spreche, meine ich damit zweierlei: Denn nachdem ich den Schulbetrieb verlassen hatte und weiterschrieb, erhielt ich im Herbst 2021 ein Stipendium, gewann im Frühjahr 2022 einen Literaturwettbewerb, woraufhin mich der Verlag fand, der aus meinem Manuskript im Herbst 2022 ein Buch machte. „Der Himmel muss warten“ ist im September 2022 im Müry Salzmann Verlag erschienen und bereist seitdem die Welt.

Gegen jede Wette und Wahrscheinlichkeit  des Zweiflers, der mir zu Beginn dieser Reise gegenüber saß und mir „nur aus Wohlwollen heraus“ ohne Kenntnis des Themas davon „dringlich abraten“ wollte, mein Schreiben zu verfolgen: ohne Agentur, ohne nennenswerte Followerzahl bei Sozialen Netzwerken, ohne Marktrecherche. Auf der anderen Seite waren Freund:innen die Anteil nahmen, gegenlasen, mir bei der Auswahl für den Lesewettbewerb zur Seite standen. 

Menschen, die an einen glauben, sind Schätze; zählt man selbst dazu, wird das Leben ein anderes. Träume sind zum Leben da. Finanziere ich mein Leben bisher damit? Nein, weit entfernt. Doch bin ich ungleich glücklicher weil endlich dort, wo ich hinwollte? Ja. Entspricht mein Leben dem, wie ich es mir wünsche und gestalten möchte: täglich mehr.

Zweitens: Ich kenne Depressionen sowohl als Angehörige wie auch als Betroffene; aus dieser Perspektive heraus möchte ich sagen: Es gibt ein Leben danach, es gibt ein Leben in glücklich, und es lohnt sich!

Sandra Reichert, geboren 1979 in Nauen, lebt seit 1984 in West-Berlin. Studium der Philosophie, u. a. bei Peter Bieri, auch bekannt als Pascal Mercier. Abschlüsse in der Anglistik, Germanistik sowie Amerikanistik. Mietbar für Beiträge und Workshops zu inklusiver Sprache, medialer Repräsentation von Frauen im Profisport sowie zur Konstruktion von Identitäten un_abhängig von Geschlecht, Herkunft und Begehren.

Noch mehr Texte zum Thema
Till Raether: „Die Latte für Väter ist so niedrig und sie wollen immer noch Hilfe“
Macht urbanes Leben depressiv?
Über kranke Mütter und kleine Söhne: Eine Buchrezension
Immer noch ein Tabu: Babyblues & postpartale Depression

Hilfe und Kontaktmöglichkeiten

Bei akuter Krise, wende Dich bitte an die behandelnden Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen, die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarztruf unter 112. 

Du erreichst die Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222.

Start – Lesbenberatung Berlin (lesbenberatung-berlin.de)

Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (lsvd.de)

Lesbenberatung Berlin und LesMigraS | Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie (vlsp.de)

Online-Beratung

Junge Menschen unter 25 können sich an den Krisenchat und jugendnotmail.de wenden. Diese bieten individuelle Krisenberatung per Whatsapp und E-Mail an – rund um die Uhr erreichbar und kostenlos.

Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren können unter bke-jugendberatung.de Beratung und Begleitung per Mail, Forum Einzel- oder Gruppenchat erhalten. Gleiches gilt für Eltern mit Kindern bis 21 Jahren unter bke-elternberatung.de. Beide Beratungsangebote sind kostenfrei, anonym und rund um die Uhr erreichbar.

Info-Telefon Depression

0800 / 33 44 533

Mo, Di, Do: 13:00 – 17:00 Uhr
Mi, Fr: 08:30 – 12:30 Uhr

weitere Kontakt- und Hilfsmöglichkeiten: Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention e.V. (suizidprophylaxe.de)

Foto: Sjoerd Yedema

Newsletter Abo

„Wir sind sooooooooooo up-to-date, Schätzchen.”

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von 69e388e9.sibforms.com zu laden.

Inhalt laden

Schließen