Hauptstadtmutti

Warum Eltern allein das System nicht fixen können und gute Familienpolitik kein Nebenjob ist

Ein Montagmorgen vor dem Lockdown, 10 Uhr. Seit zwei Stunden sitze ich im Meetingraum des Coworking Spaces um die Ecke. Nicht etwa, um meiner Arbeit einzugehen. Nein, ich befinde mich in einer Runde mit der Kita-Leitung und Elternvertreter*innen und diskutiere über die Zustände in der Betreuungseinrichtung meiner Tochter.

Nicht, weil ich große Lust dazu habe. Sondern weil die Hütte brennt. Mal wieder. Weil es akute Missstände in der Kita gibt, fragwürdige Erziehungsmethoden und Räumlichkeiten, die hart an der Grenze des Zumutbaren, vermutlich sogar de facto ungeeignet sind. Der Sitzung vorausgegangen sind jede Menge E-Mails und Chat-Nachrichten. Geteilte Dokumente wurden bearbeitet, diskutiert, Texte aufbereitet, Forderungen formuliert. Alles zusammen hat mich gut und gern eine Arbeitswoche gekostet. Und das Thema ist längst nicht abgehakt.

Aufgrund des Lockdowns ist es ausgesetzt, aber wenn die Kitas wieder öffnen, muss ich mich erneut fragen, ob ich mein Kind guten Gewissens in die Betreuung geben kann, oder ob ich fürchten muss, nach wenigen Tagen wieder zu erfahren, dass die Kinder nicht sprechen durften oder an drei Vormittagen Fernsehen geguckt wurde, weil Personal fehlt. Mir graut vor der Vorstellung, wieder nur mit halbem Hirn und Bauchschmerzen am Schreibtisch zu sitzen und mühsam zu versuchen, meiner eigentlichen Arbeit nachzugehen, die ich eigentlich sehr liebe.

Kein gutes Betreuungs- und Bildungssystem? – Kein Unternehmer*innentum.

Schlechte Bedingungen in Betreuungseinrichtungen sind kein Einzelfall. Sie sind ein strukturelles Problem, das seit Jahren bekannt und doch unbehandelt ist. Als Eltern habe ich die Wahl, darüber hinwegzusehen oder es irgendwie auszublenden, oder mein Kind zu Hause zu lassen, was uns alle auf Dauer nicht weniger unzufrieden und unglücklich machen würde.

Oder ich kann mich selbst engagieren und zumindest kleine Verbesserungen durchdrücken, mit dem oben beschriebenen zeitlichen Invest. Die Wahlmöglichkeiten bewegen sich also irgendwo auf dem Niveau “Pest, Cholera oder Corona”. Nebenbei ein Unternehmen führen? Gründen? Oder überhaupt konzentriert oder gar kreativ arbeiten? – Kaum möglich. 

Fakt ist: Echte Vereinbarkeit und Chancengerechtigkeit für Menschen mit Kindern, egal ob sie gründen oder festangestellt arbeiten, steht und fällt mit der Qualität der Kinderbetreuung. Und die ist nicht nur in den Krippen und Kitas vielerorts miserabel. In der Schule geht es weiter. Im Prinzip kann ich heute schon anfangen, mich als Freizeitlehrerin ausbilden zu lassen, um die wirklich wichtigen Kompetenzen des 21. Jahrhunderts dann zu Hause zu vermitteln. So etwas wie kollaboratives Arbeiten, kritischen Medienkonsum, Nachhaltigkeit, Ausprobieren, Umgang mit Vielfalt usw.

Denn diese Fächer sucht man an den meisten Schulen vergebens. Ich kann aber auch einfach anfangen, kochen zu lernen, denn auch das Schulessen ist an vielen Schulen ein schlechter Scherz mit Maggie-Fix. Letzteres mag, verglichen mit den inhaltlichen und personellen Problemen an Schulen, banal klingen, ist es aber nicht. Denn der Punkt ist: Nur wenn ich als Eltern das Gefühl habe, mein Kind ist gut aufgehoben, habe ich wirklich den Kopf frei, um gute Arbeit zu machen, ob angestellt oder als Gründerin oder als Unternehmerin.

Wir werden keine gute Vereinbarkeit und damit verbundene Wertschöpfung hinbekommen, wenn wir Kitas und Schulen, die Einrichtungen, in denen der Grundstein für eine gute Zukunft gelegt wird, weiter wie lästige Nebenprojekte behandeln und die Milliarden lieber in die Vergangenheit stecken, in strauchelnde Airlines und fancy Stadtschlösser. 

DIY: System fixen – aber möglichst unbezahlt bitte.

Klar, ich kann mich alle paar Wochen Montagmorgen mit Kita-Leitungen in Coworking Spaces setzen oder direkt als Vorleserin in die Vorschulgruppe, weil es sonst keiner macht. Ich kann Ernährungs-Konzepte für die Schulen schreiben. Ich kann kostenfrei Workshops an Schulen zu Digitalisierung und vernetztem Arbeiten geben. Kann ich alles machen – dafür habe ich nur leider eigentlich keine Zeit, denn ich habe bereits eine Arbeit, die mich zeitlich und inhaltlich voll ausgefüllt.

In einem Unternehmen, das ich 2016 gegründet habe und das seitdem übrigens einen Teil des Kitaplatzmangels in Berlin abfängt, den – surprise – die Politik nicht in den Griff bekommt. Daneben engagiere ich mich ehrenamtlich für mehr Chancengleichheit im Startup-System, ein weiteres strukturelles Problem, dem die Politik seit Jahren nichts entgegenzusetzen hat.

Kitas und Schulen zu reformieren ist nicht meine Kernkompetenz und es ist nicht meine Aufgabe, und auch nicht die von all den anderen Eltern da draußen. Es ist Aufgabe von Politiker*innen, die dafür hoch bezahlt werden. Wenn sie es allein nicht hinbekommen, dann wird es höchste Zeit, diejenigen zu unterstützen, die seit Jahren mit mutigem unternehmerischem Handeln politische Versäumnisse auffangen.

Denn nichts anderes tun die vielen Social Entrepreneure da draußen, und das oft hart an der Überlebensgrenze. Und trotzdem werden es immer mehr. Denn viele Menschen spüren, dass es so nicht weitergehen kann, in den Kitas nicht, in den Schulen nicht, an den Grenzen nicht und in den Supermarktregalen. 

Social Entrepreneurship: Retten Frauen und Eltern die Welt?

Nun könnte man annehmen, dass die Politik ganz froh ist, so viele tatkräftige Unternehmer*innen im Land zu haben, die ihre Energie in die essentiellen Zukunftsfragen stecken. Doch weit gefehlt – auch in puncto Social Entrepreneurship ist Deutschland Entwicklungsland. In der Studie „The best country to be a Social Entrepreneur“ belegte Deutschland einen traurigen 21. Platz. Bei der Unterstützung durch die Politik reichte es sogar nur für Platz 34.

Es fehlt an politischer Wertschätzung und an Förderinstrumenten, in denen sich eine solche Wertschätzung widerspiegeln würde. Das ist ein grundsätzliches Problem, es ist aber auch und gerade ein Eltern-Problem und insbesondere ein Problem für weibliche Gründer*innen. Denn unter den Social Entrepreneuren sind auffällig viele Frauen und weiblich geprägte Menschen. Während in Deutschland nur 16 Prozent der Startups von Frauen gegründet werden, sind es bei den Sozialunternehmen fast 47 Prozent.

All diese Unternehmer*innen nehmen sich den großen Herausforderungen unserer Zeit an, von Klimakrise über Integration bis Vereinbarkeits- und Bildungsthemen. Sie machen das hauptberuflich und erfolgreich – wenn man Erfolg auch in Impact misst, statt nur in Profit. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass sich mit Lösungen für tiefgehende gesellschaftliche Probleme nur schwer Geld verdienen lässt.

Und so bekommen diese mutigen Gründer*innen für ihre Arbeit am Ende mitunter genauso viel wie ich an besagtem Montagmorgen im Coworking Space: nix. Dabei ersparen sie der Politik regelmäßig Leistungen in Millionenhöhe, indem sie Geflüchtete integrieren, Lernplattformen entwickeln oder digitale Alltagshelfer für Menschen mit Behinderung bauen – alles Dinge, die eigentlich Aufgabe des Staates sind. Genau wie endlich für eine flächendeckende gute Kinderbetreuung zu sorgen.

Gesellschaftlicher Wandel ist kein Nebenjob

Social Entrepreneurship ist die Art von Unternehmer*innentum, die wir brauchen, um das Ruder in den wirklich wichtigen Bereichen des Lebens endlich rumzureißen. Gleichzeitig können wir als Frauen, Eltern und Unternehmer*innen die vielen strukturellen Probleme nicht nebenbei und unbezahlt lösen, neben einem zweiten Business etwa, das die Miete zahlt, oder ehrenamtlich montags früh oder nach Feierabend.

Auch wenn die inneren Treiber stark sind. Ich bin selbst Sozialunternehmerin und ziehe vermutlich weit mehr Energie aus dieser Art des sinngetriebenen Arbeitens als es mir in einem anderen Job möglich wäre. Und trotzdem kann ich und können andere Gründer*innen diese Arbeit nur gut machen, wenn sie ihnen auch ein Stück finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht.

Und wenn sie als Eltern nicht darauf hoffen müssen, dass ein anderer hoch motivierter Gründer (oder eine Gründerin) in den kommenden Monaten das strukturelle Betreuungsproblem in diesem Land lösen wird, auch auf die Gefahr hin, dass er*sie das zweite Gründungsjahr nicht übersteht. 

Gute Familienpolitik, gute Startup-Politik, gute Bildungspolitik ist kein Nebenprojekt. Sie braucht hier und jetzt die geballte Aufmerksamkeit der verantwortlichen Akteur*innen. Das sind sie nicht nur den Eltern schuldig, die sich Tag für Tag auf unzähligen Nebenbaustellen engagieren, sondern vor allem den Kindern in diesem Land. Wir brauchen eine politische Prioritätenverschiebung und Politiker*innen, die endlich neue Wege gehen – hands-on, mit Offenheit, Mut, Herz und vernetzt mit allen, die Lust haben mitzugestalten. Wie ein echter Social Entrepreneur eben. 

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Über die Autorin:

Katja Thiede ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von juggleHUB Coworking, Mitgründerin und aktive Mitgestalterin des ParentPreneurs-Netzwerks für Elterngründer*innen und freie Autorin für die Themen „Neues Arbeiten“ und „Entrepreneurship“. Sie ist leidenschaftliche Netzwerkerin und Mentorin für Gründerinnen mit Kindern. Als Impulsgeberin, Speakerin und kreativer Kopf unterstützt sie Organisationen, die eine menschenfreundliche Arbeitswelt anstreben und den Austausch mit der Gründer*innenszene suchen. Daneben engagiert sie sich zunehmend ehrenamtlich für die digitale Bildung von Kindern. Nichts davon macht sie perfekt, weil das gar nicht möglich ist. Aber sie macht es – mit Herzblut und dem nötigen Maß an Improvisation. 

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