Der Tag, an dem mein Beratungsgespräch bei ProFamilia stattfinden sollte, war ein sehr heißer Tag. Vormittags hospitierte ich in einem Kinderladen. Ja genau, so ein Kinderladen der 70er Jahre, in dem es verschmierte Wände gibt, Kinder bei Lust und Laune auch gerne mal nackt herumlaufen, Elternabende politischen Grundsatzdiskussionen gleichen und das Wort Anarchie noch zum Sprachgebrauch gehörte.
Ich hatte Glück, denn ich gehörte zu den 33 % der Frauen, die bei ihrer ersten Schwangerschaft ihr Kind in den ersten 10 Wochen verlieren. Warum ich das als Glück bezeichne? Weil mir dadurch die Entscheidung zu einer Abtreibung abgenommen worden war. Auch heute noch, bin ich dankbar für diese Laune der Natur, denn ein Kind abtreiben wollte ich nie. Damals hätte ich es aber mit höchster Wahrscheinlichkeit getan. Ich war 19 Jahre alt, hatte meine Ausbildung noch nicht abgeschlossen, war mittellos und befand mich in einer „offenen Beziehung“. Wer mehrmals mit dem selben pennt, gehört schon zum Establishement war damals die Lebensphilosophie und in Wirklichkeit war dieser Mann meine erste große Liebe.
Abtreibung – der unüberwindbare Widerspruch zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und moralischer Schuld
Nach diesen anstrengenden Stunden, währenddessen ich bereits ein starkes Ziehen im Unterleib verspürte und meine Gedanken sich ausschließlich um das bevorstehende Gespräch bei ProFamilia drehten, landete ich wenige Meter vor der Tür des gemeinnützigen Vereins, der sich für eigenverantwortliche Familienplanung und selbstbestimmte Sexualität engagierte. Eine kleine Wiese am Bürgersteig, gegenüber der Eingangstür, wurde für eine halbe Stunde mein Zufluchtsort, bevor eine Freundin mich dort abholte und der Blutfluss begann. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich sie erreicht habe, es muss wohl aus einer Telefonzelle gewesen sein.
Die Schmerzen waren derart massiv geworden, dass ich mich krümmte und die Zähne aufeinander beißen musste, um nicht zu schreien. Was war los? Bekam ich meine Menstruation doch noch? Ich befand mich in der neunten Schwangerschaftswoche und wollte das Kind nicht. Es war jenseits meiner Vorstellungskraft ein Kind zu bekommen. Der Vater des Kindes war Musiker und voll und ganz mit seiner Karriere beschäftigt. Er spielte acht bis zehn Stunden am Tag Bass und die Nächte gehörten: dem Nachtleben. Von Familienplanung war keine Rede, nicht einmal der Hauch eines Gedankens daran. Ich kann mich nicht daran erinnern, das wir länger als zehn Minuten über die Tatsache, das ich schwanger war, gesprochen haben.
Ernsthaft! So als sei es klar, das dies ganz alleine mein Problem war. Ich war voller Angst. Es gab nur einen Ausweg, das Kind durfte nicht zur Welt kommen. Meine Zukunft lag nebulös vor mir, meine Gegenwart war von Spontanität, wenig Struktur und der wagen Vorstellung einer grandiosen, unabhängigen und kosmopolitischen Zukunft geprägt. Mir war klar: Alleine schaffst du es nicht! Niemals! Die Angst beherrschte mich vollkommen. Ich war nicht frei und mutig genug, einen solchen Schritt alleine zu gehen.
Aufgeben, was noch gar nicht begonnen hatte. Freiheit aufgeben, bedeutete damals für mich meine Zukunft aufzugeben. „Mein Bauch gehört mir“, war der Slogan der 70er Jahre. Ein Slogan, der eine historische Debatte auslöste und zu einer veränderten Gesetzgebung führte. Ich war zutiefst davon überzeugt, das dies der wichtigste Meilenstein in der Emanzipation jeder Frau war. Ohne diese Selbstbestimmung konnte Freiheit nicht erreicht werden. Und dieser Meinung bin ich auch heute noch, ohne wenn und aber.
Beratungen helfen!
Natürlich kann ich aus heutiger Sicht nicht mehr sagen, ob ich wirklich abgetrieben hätte, denn es kam ja nicht zur entscheidenden Frage Die Beratungen zeigen viele Möglichkeiten auf. Sie sortieren deine Gedanken, sie zeigen Hilfsangebote auf, die finanziellen, als auch die psychologisch unterstützenden. Beratungen helfen! Gut ausgebildete Sozialarbeiter*innen machen die Anträge für dich, von denen du vielleicht vorher nicht einmal etwas wusstest. Sie zeigen deine Ressourcen auf und lassen dich deine Entscheidung mit wesentlich mehr Informationen, als vorher, fällen. Das ist überaus wichtig! Gut informiert zu sein, bevor man eine Entscheidung fällt. Deswegen halte ich die gesetzlich vorgeschriebene Beratung auch für notwendig und bin nicht für die reine Fristenregelung, wie es übrigens nach dem Mauerfall in der DDR trotzdem weiterhin gesetzlich verankert blieb.
„Wie hätte unser Kind wohl ausgesehen? Hättest du lieber einen Sohn, oder eine Tochter gehabt?“
20 Jahre später haben wir uns übrigens bei einem Wiedersehen darüber unterhalten. Über unser Kind, das nicht zur Welt kam. Es war schön darüber zu reden, es verbindet uns in all seiner Faszination, was wäre wenn. Widersprüchlich? Ja! Natürlich!!! Ich fühle mich frei von Schuld und dafür bin ich dankbar. Würde ich mich heute schuldig fühlen, wenn ich abgetrieben hätte? Ich weiß es nicht. Solche hypothetischen Fragen sind dumm. Ich glaube ja. Zumindest traurig, sehr traurig.
Er ist ein erfolgreicher Komponist und Filmmusiker geworden. Kinderlos, unverheiratet. Wir haben gemeinsam ausgerechnet, wie alt unser Kind nun sein würde und klammerten die Tatsache, das ich es abgetrieben hätte unisono stillschweigend aus.
Kinderladen-Geschichte
Die Kinderladenbewegung und die öffentliche Diskussion, um die in den Kinderläden praktizierte antiautoritäre Erziehung begannen erst 1968 mit der Gründung der Kinderläden, insbesondere in Berlin. Die Gründung der Kinderläden in Berlin fand zunächst im studentischen Milieu des SDS und der Sponti-Bewegung statt und wurde organisiert vom Aktionsrat zur Befreiung der Frau, welcher gleichzeitig die zweite deutsche Frauenbewegung einleitete. Die Kinderladen-Bewegung verstand sich als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Protestbewegung gegen die bestehende Verhältnisse. Der erste Kinderladen in Berlin wurde übrigens von zwei Männern in Neukölln gegründet.
Bettina Mennen ist eine glücklich geschiedene 62-jährige Oma, die uns aus ihrem Leben erzählen möchte. Sie lebt in Aachen, die Enkelkinder in Berlin.
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Foto: Kai Senf