Hauptstadtmutti

Nationalsozialismus in Kinderbüchern & Hannah Arendt

Diversity in Kinderbüchern war dieses Jahr ein großes Thema. Immer sprach ich mit meinem großen Kind über Rassismus und las mit ihm die fantastischsten Kinderbücher. In einem Anfall von Bestellwahn während des Lockdowns schaffte es auch das Little People, Big Dreams Kinderbuch über Hannah Arendt in den Einkaufskorb.


Ich dachte mir nicht viel dabei, schließlich sind die Bücher ab vier Jahren und auf Altersangaben bei Kinderbüchern habe ich eigentlich schon immer gepfiffen. Der Kindergarten war so semi begeistert und sprach mich prinzipiell voll nett auf die Kinderbuchwahl unseres Kindes an: an dem Tag waren Rosa Parks und Hannah Arendt dabei. Ob das nicht zu ernst wäre. Ob das nicht zu früh wäre. Ob das denn sein muss. 

Die Frage ist natürlich auch, ob denn der Nationalsozialismus sein musste, aber hey. 

Fragen wir doch einfach Mirna Funk

Ich frage die eine Person, die sich mit Kindern, Judentum, Nationalsozialismus und Philosophie auskennt: Mirna Funk, die auch auf ihrem Instagram Account nicht müde wird, ihre FollowerInnen weiterzubilden.

Mirna, ab wann kann man mit Kindern über den Nationalsozialismus sprechen? 

Man kann und sollte mit Kindern zu jedem Zeitpunkt über alles sprechen. Aber eben altersentsprechend. Das heißt, das man zum Beispiel in jedem Alter erzählen kann, dass es mal einen Krieg gab und dort Menschen aufgrund ihrer Herkunft verfolgt und getötet wurden. Je älter das Kind, umso klarer können die Geschehnisse erläutert werden. Ich erinnere mich, dass meine Tochter mit zwei oder drei Jahren wissen wollte, woher ihr Name kommt. Und ich erzählte ihr von ihrer Urgroßmutter, die während des Krieges viele Jahre in einem Lager gefangen gehalten wurde, weil sie Jüdin war, und irgendwann freikam. Aber ihr Leben lang gesundheitlich angeschlagen war wegen der furchtbaren Bedingungen. Um an sie zu erinnern, ihr Leid, aber auch ihren Überlebenswillen haben wir dir ihren Namen gegeben. Es kommt also nicht auf das Alter, sondern die richtige Wortwahl an. 

Mirna Funk

Ich erinnere mich an ein anderes Gespräch mit Mirna, gefühlt Ewigkeiten muss das her gewesen sein, da unterhielten wir uns über das Studieren mit Kind in Deutschland. Sie steckt mitten im Master mit einem nicht mehr ganz kleinen Kind, ich habe damals schwanger und mit Baby meinen Master beendet. Ich erinnerte mich, wie viel Spaß studieren nach dem Bachelor eigentlich gemacht hat. Weniger sinnlose Pflichtveranstaltungen (History of the English Language…) und mehr Recherche, mehr Lesen und mehr Weiterbildung. 

Ich lese zwar viel, aber hauptsächlich Romane. Mit Philosophie habe ich mich nur in einem Pflichtseminar für Politikwissenschaft auseinandersetzt. Ich sage zu Mirna: Sag mir ein Gebiet, eine Person, irgendwas, bei der du sagen würdest, da kann oder sollte man sich als erwachsene Person noch einmal mit beschäftigen. 

„Hannah Arendt.“

Vielleicht hatte ich deswegen das Kinderbuch bestellt. Um selbst erst einmal ein bisschen reinzulesen. Es geht um ein kluges Mädchen, das gerne liest und sich zu wehren weiß. Als mutig und stur wird sie im Buch bezeichnet. Sie studiert Philosophie und will wissen, warum wir sind, wie wir sind. Das wüsste ich auch gern. Hitler wird erwähnt, sein Hass gegen Menschen, die angeblich nicht deutsch waren und dass Hannah Arendt auswandern musste. Sie wird als Denkerin, Philosophin und freier Geist bezeichnet. Der Eichmann-Prozess wird nicht erwähnt. Alles sehr kindgerecht und gut erklärt. 

Um in das Thema Hannah Arendt einzusteigen lohnt sich auch der Film von 2012: Hannah Arendt – Ihr Denken veränderte die Welt. Ich liebe Filme über inspirierende Frauen, nichts ist besser als so ein richtig gutes dramatisches Drama, und dann noch based on a true story? Bin ich dabei. 

Nichtsdestotrotz wollte ich ich es nicht bei einem Kinderbuch und einem Film belassen. Kennt ihr das, wenn man manchmal spätnachts in einer Wikipedia Spirale landet? Man liest und liest, klickt noch einmal, plötzlich ist man bei YouTube und guckt Videos über Schweizer Käsefermentierung. So nicht, Algorithmus! 

Aktives Leben oder Revolution?

Im Piper Verlag sind nun zwei Neu Editionen erschienen: ‚Vita activa oder Vom tätigen Leben‚ 

Vita activa“ im ursprüngliche Sinne meint Arbeiten, Herstellen und Handeln. Hannah Arendts umfassende Analyse gilt vor allem diesen drei Grundtätigkeiten. Sie untersucht darüber hinaus, wie sie sich im Laufe der Geschichte bis in die Neuzeit hinein zu verhalten haben. Hannah Arendts Auseinandersetzung mit dem Fetisch Arbeit und Konsum in der modernen Arbeitsgesellschaft im Zusammenhang mit dem Niedergang einer Kultur der politischen Öffentlichkeit bildet den Kern ihrer politischen Theorie. Kurt Sontheimer schrieb dazu: „Der Philosophie als einer theoretischen, auf die reine Erkenntnis der Natur gerichteten Disziplin stellte sie die Politik als die Sphäre der Praxis, als das Reich handelnder Menschen gegenüber.“

und ‚Über die Revolution‚.

Revolution beruft sich auf Freiheit, Krieg auf Notwendigkeit. Hannah Arendt analysiert in dieser brillanten Studie eines der erstaunlichsten Phänomene des 20. Jahrhunderts: die Ablösung des Krieges als traditionelles Mittel der gewaltsamen Veränderung bestehender politischer Verhältnisse durch die Revolution. Dabei geht sie von zwei großen Beispielen aus – der Amerikanischen und der Französischen Revolution – und fragt, wie es möglich war, dass die eine zum Erfolg führte, während die andere in Ohnmacht und Terror versank. Sie denkt darüber nach, ob die revolutionären Tugenden zu erneuern und die Übel der Massengesellschaft so zu überwinden sind.

Ich freue mich auf beide, mein Gehirn auch. Endlich wieder Stoff. Schließlich sagt der Verlag aus guten Gründen: „Das Denken der deutsch-jüdischen Philosophin Hannah Arendt ist aktueller denn je.“ Im Piper Verlag erscheinen übrigens, soweit ich das sehen kann, so ziemlich alle wichtigen Bücher von Hannah Arendt.

Das Erinnern ist wichtig, gerade an Tagen wie dem 9. November. Genauso wichtig ist es, sich mit dem jüdischen Leben im Hier und Jetzt zu beschäftigen. Wir können Mirna Funks Vogue Kolumnen lesen, ihren fantastischen ersten Roman Winternähe lesen oder uns auf „Zwischen Du und Ich“ freuen, der am 19.2.2021 bei dtv erscheint.