Herzlich willkommen im Herbst, aka der Erkältungssaison! Mit dabei sind kranke Kinder! Also wirklich, alle Kinder sind krank. Schnodder, Rotznasen, Erkältungen, Husten, Fieber und zur Abwechslung auch mal Durchfall und Erbrechen.
Wenn ihr es also nicht an eurem eigenen kranken Kind gemerkt hättet, müsstet ihr nur das Internet anmachen, bzw. durch das magische Portal durchgehen und euch berieseln lassen von all den Bildern kranker Kinder und Inhalationsgeräten. Und nicht zu vergessen, die kleine fieberklamme Hand, die von der großen Hand liebevoll gehalten wird und dann mit der anderen Hand von oben fotografiert wird. Noch schnell das Licht anmachen, damit es besser ausgeleuchtet ist, pssssscht, ja schlaf weiter Hasi, ich mach nur schnell ein Foto für das Internet!
WTF
In welchem Moment beschließe ich als Content Creator, dass das kranke Kind Content wäre? Ich versuche so neutral wie möglich an dieses Thema heranzugehen, muss mich aber arg beherrschen nicht in komplettem Sarkasmus und Zynismus zu enden. Die Welt der Menschen, die davon leben, auf Instagram oder TikTok vertreten zu sein, kann eine unglaubliche sein. Ich respektiere diesen Job aber genauso wie jeden anderen.
Besonders ist mir in letzter Zeit aufgefallen, dass viele öffentlich erklären, dass der Algorithmus sie bestraft, wenn sie sich mal zwei Tage ruhiger verhalten. Oder dass der Algorithmus ein Gesicht sehen möchte. Also posten sie ein Gesicht. Privat erzählen mir dann wiederum andere, dass es absolut keinen Unterschied macht, ob sie Selfies oder Haarspangen posten. Nur wenn sie politisch etwas lauter werden, scheinen die Stories nicht mehr allen angezeigt zu werden.
Kooperationspartner wollen die Zahlen der Stories aus den letzten Tagen oder Wochen sehen. Sie wollen aktuelle Screenshots als Beweis. Wenn dann die Zahlen ausnahmsweise mal niedriger sind, weil z.B. das Kind krank war und der Erwerbsarbeit nicht nachgegangen werden konnte, dann könnte die Bezahlung für eine mögliche Kooperation schlechter ausfallen.
Der Followerschaft mitzuteilen, dass es unter Umständen etwas ruhiger wird für ein paar Tage, weil man sich auch um ein krankes Kind kümmern muss, ist sicherlich legitim. Don’t bite the hand that feeds you und in diesem Fall, liebe Leserschaft, sind es eure Zugriffszahlen, die andere füttern. Ich verstehe, dass viele dieser Accounts da draußen von dieser sehr engen Interaktion und Kommunikation leben. Doch wage ich vorsichtig zu behaupten, dass auch hier jede*r Account-Inhaber*in die eigenen Grenzen definieren und wahren kann. Oder?
Die meisten Content Creators, über die ich hier spreche, sind weiblich. Also Mütter. Zumindest ist mir in den letzten Wochen und Monaten, seitdem mir dieses Thema immer mehr über den Weg läuft, kein Vater aufgefallen, der sein krankes Kind postet.
Augenblick mal. Gibt es da einen Zusammenhang?
Könnte es sein, dass in unserer Gesellschaft immer noch vorrangig die Mütter für das kranke Kind zuständig sind? NEIN! DOCH! OH! Das ist ja was. Wenn sie dann also auch noch ‚nur‘ Content Creator sind oder im Home Office arbeiten, während der Partner eine Festanstellung in einem ‚echten‘ Büro hat, dann können sie das kranke Kind ja ‚nebenbei‘ versorgen, ist das der allgemeine Beschluss?
Irgendwie erinnert mich das alles an eine Zeit aus der jüngsten Vergangenheit, ich komm nicht drauf, was mit L…oder P….? Lockdown! Pandemie! YES! Das war’s! Zur allgemeinen Überraschung haben Mütter einfach mal doppelt so viele Corona-Krankentage genommen wie die Väter. Das ist ja der Wahnsinn. Was sagt man dazu?
Sarcasm off.
Nicht nur, dass Mütter in diesem Land warum auch immer die Alleinverantwortung für kranke Kinder tragen, es plagt sie dann anscheinend im Umkehrschluss ein schlechtes Gewissen, wenn sie dann doch mal das Haus verlassen, obwohl zu Hause ein krankes Kind, uhm, krank ist. Rumliegt, Fernseher guckt, Schnodder verteilt.
Ich habe Tage und Wochen mit Freundinnen und Kolleginnen aus dieser Blase diskutiert, ob es nicht genau die Stereotypen und Vorurteile reproduziert, wenn Mütter darüber sprechen, dass sie ein schlechtes Gewissen haben, das kranke Kind ‚zurückzulassen‘. Oder ob wir dadurch lernen, dass Gefühle von Müttern valide sind und sie ihre Journey einfach selbst bewältigen müssen.
Blablabla Schnauze
Das Kind hat Schnupfen, geh einkaufen oder arbeiten und lass das Kind mit Oma, Papa, Nachbarin Fernseher gucken. Wohlgemerkt, ich spreche hier immer noch von zusammenlebenden Eltern in trauter Heteronormativität.
Ich habe eine klare Meinung dazu, weil ich in einer Welt lebe und aufgewachsen bin, in der Eltern sehr wohl der Erwerbsarbeit nachgehen mussten und müssen, auch wenn das Kind krank ist. Die sich auf ein Netzwerk von Nachbar*innen, Freund*innen, Verwandten und anderen Eltern verlassen müssen, weil sie die Wahl nicht haben. Und auf Alleinerziehende gehe ich in diesem Kontext nicht mal ein!
In was für einer geilen Welt muss man leben, dass die Welt stehen bleibt, wenn das Kind eine Erkältung hat? Versteht mich nicht falsch, gerade verschnupfte Kleinkinder verstehen das Kranksein nicht wirklich und es ist anstrengend für die betreuende Person, sich um dieses Kind zu kümmern. Doch die Arbeit geht zwar nicht vor, doch sie macht auch nicht unbedingt Pause.
Würde ich es also unter diesem Aspekt betrachten, dann gingen Content Creator einfach weiterhin ihrer Erwerbsarbeit nach, wenn sie kranke Kinder als Content nutzen. Und dann wären wir endlich bei der Ausgangsfrage.
Sind kranke Kinder Content?
Es ist volle Absicht, dass ich hier übrigens keinen einzigen Account namentlich erwähne geschweige denn Screenshots von Posts veröffentliche, in denen Kinder (mit verdecktem Gesicht) auf dem Klo oder fiebrig im Bett gezeigt werden.
Aber würden sich Content Creator denn auch selbst fotografieren, wenn sie krank wären?
Ha! Fangfrage! Natürlich würden sie es. Sie tun es doch. Woher sonst hätten wir das wundervolle #WaZiFuBo? Oder Aufnahmen aus Krankenhauszimmern mit einem Daumen hoch und dem Vermerk ‚Fragt nicht…‘. Mein Lieblings-Empathy-Bait ist immer noch die Notaufnahme, mit dem Vermerk ‚Uns geht’s gut‘. Liegt es an mir? Bin ich das Problem? Verstehe ich das Internet nicht? Im Ernst, ich habe zwei Kinder. Die werden krank, die fallen hin, die landen in der Notaufnahme. Aber ganz im Ernst, hol ich dann mein Handy raus? Also ich hole es raus, aber um Janoschs Traumstunde anzumachen, damit das Kind sich beruhigt.
True Story
Auf einem Event vor etlichen Jahren hat mir eine sehr bekannte Influencerin mal verraten, dass nichts so gut klickt wie Notaufnahme. Es wäre ein wahrer Segen für die Followerzahlen. Ich glaube mir ist die Kinnlade runtergefallen, also hab ich schnell weiter am Kopfschmerz-Prosecco geschlürft. Sie hätte seitdem einfach immer Material parat, wenn es mal wieder richtig mau wäre. Und irgendein Kind (oder sie selber) ist ja immer mal krank.
Seht ihr, es gibt einen Grund, warum ich so zynisch bin. Vielen Dank fürs Lesen meines Gedankenspiels. Und um meine eingehende Frage zu beantworten: Nein, kranke Kinder sind kein Content. Dass Mütter zu Hause bleiben, um sich um kranke Kinder zu kümmern allerdings schon. Dass Väter das in der Regel nicht tun, auch.
Während der diversenen Lockdowns und Quarantänezustände haben die meisten Familien schmerzhaft erfahren müssen, wer im Ernstfall den Kürzeren zieht. Wer automatisch zuständig ist. Und wer weiß, wo der Fiebersaft steht oder wo die Versichertenkarten sind. Übrigens, verstehe bis heute nicht, wieso Krankenkassen nicht jedem Elternteil eine Karte pro Kind geben können. Obwohl, doch, weil sie eh davon ausgehen, dass sie immer im Portemonnaie der Person stecken wird, die mit dem kranken Kind zu Hause bleibt.