„Sag mal schnell einen Buchtipp, ich brauch was zum Lesen,“ haute Isa mich letztens an. Zunächst einmal sage ich bei so einer Gelegenheit immer „Americanah“ von Chimamanda Ngozi Adichie oder „Weil wir längst woanders sind“ von Rasha Khayat. Die hab ich Isa allerdings schon hundertmal vorgeschlagen, und auf mich hört ja wie immer niemand. Also musste ich ihr clickbaitmäßig ein kleines Juwel schmackhaft machen.
„Ich hätte da eine schwedische Mutter mit Baby, die voll Gangster ist, versucht Geld einzutreiben, Mann tot, diskutiert mit Mafiosi (heißen die in Schweden dann auch so?) und ich habe noch nie ein Buch gelesen, in dem das Stillen so unglaublich literarisch, schön und genauestens beschrieben wird. Aber leg dich vorn Kamin, beim Lesen könnte dir kalt werden.“
Ha! Der Köder saß! Das Buch heißt „Die weiße Stadt“ und ist von Karolina Ramqvist, wie ich inzwischen gelernt habe, eine der gefeitesten (Danke, Autokorrekt, ich wollte gefeiertsten schreiben, aber so passt es auch.) Feministinnen Schwedens.
Wenn man wie ich Anfang der 80er Jahre mit einer radikalfeministischen Mutter aufgewachsen ist, gab es keinen Grund, gegen den Feminismus aufzubegehren. Für diejenigen, deren Eltern zu den 68ern gehörten, als Feminismus eine vorherrschende Stimmung war, mag das anders gewesen sein. Aber zu der Yuppie-Generation, in der ich großgeworden bin, stand die radikalfeministische und linksorientierte Haltung meiner Mutter in Opposition, sodass ich keinen Anlass hatte, gegen sie zu rebellieren. Seitdem war die feministische Perspektive ein Teil von mir – aber natürlich habe ich im Lauf der Zeit auch so meine Auseinandersetzungen damit gehabt (lacht). Vielleicht vor allem mit dem, was Sie angesprochen haben, die Erwartungen an eine feministische Autorin. Was soll, was darf sie schreiben. Ich habe das sehr stark wie ein Gefängnis erlebt, aus dem ich mich befreien musste. Man will auch nicht, dass dieser Blick von außen die eigene Arbeit definiert. Mit der Zeit wird es einfacher, Distanz dazu zu bekommen, ich fühle mich heute nicht mehr so begrenzt wie früher. […] Und dann habe ich selbst zwei Kinder bekommen, geheiratet, alles gefühlt innerhalb von 18 Monaten, ich steckte also auf einmal voll drin in der Kernfamilie, das letzte, was ich jetzt wollte, war auch noch darüber schreiben!
Die Protagonistin des Buches, Karin, hat ein Kind. Ein Baby, nicht mehr ganz klein, aber auch noch nicht groß. Karin stillt. Karins Brüste spannen. Karin kriegt plötzlichen Milcheinschuss. Sie ist hungrig und lebt verarmt in einer Villa. Ohne Mittel, Mann tot, und verlassen von Freunden und ehemaligen ‚Geschäftspartnern‘ ihres Mannes.
Manche Rezensionen, die ich gelesen habe, beziehen sich stark auf diesen Fall von Luxus und Extravaganz zu Hunger und Armut. Steht ja auch so auf dem Klappentext und in der Pressemitteilung. Ich bin keine professionelle Rezensentin, ich lese einfach nur wahnsinnig viel und kann euch sagen, was mir getaugt hat, und was nicht. (Ich mache mir selten die Mühe, Rezensionen zu Büchern zu schreiben, die mir nicht gefallen haben. Soviel Zeit hat kein Mensch, es sei denn man ist professionelle Rezensentin.) Doch vom Bauchgefühl einer jungen Mutter geht es hier um so viel mehr. Dieses riesige leere Haus, voll von Dingen, voll von Kleidung, ein Mann der nicht präsent ist, Hunger, schnelles Essen, Müdigkeit, ach komm, welche junge Mutter hat sich nicht auch einmal so gefühlt? Ob man jetzt mit einem Gangster verheiratet ist, oder nicht? Die beste Freundin, die nichts mit deinem Baby anfangen kann? Das ewige Gefühl nach Kotze zu stinken und säuerlicher Milch? Und eine Wohnung voll von Krempel, den du nicht gebrauchen kannst? Karin lässt das Kind mit einem Ladekabel spielen, das Kind liebt es. Bei uns war das die leere Wasserflasche. Kein Kuscheltier, keine Rassel, kein Beissring, eine leere Plastikflasche wurde heiß und innig geliebt.
Für mich ist dieses Buch vor allen Dingen ein Überlebenskampf, eine komplette Umstellung, ob der Mann jetzt da ist oder nicht. Es ist eine Frau, die mit ihrem Körper kämpft, und ihn neu kennenlernt. Es ist ein Klarkommen mit der Einsamkeit, der Kälte, so unglaublich gut beschrieben von Karolin Ramqvist. Es fröstelt etwas beim Lesen, und man erinnert sich an manche dunklen Tage. Wer ein Winterbaby hatte, weiß, wovon ich spreche. Die Frau in dem Buch ist gleichzeitig stark und verzweifelt, souverän und ängstlich. Genauso, wie wir uns eigentlich jeden Tag fühlen.
Manche finden ja, dass Karin überhaupt keinen Bezug zu ihrem Kind hat. Während ich, wie Sie ja auch gesagt haben, durchaus finde, dass sie sich wirklich um die Kleine kümmert. Und wenn wir noch einmal auf die Sache mit der Lebenslust zurückkommen, kann man vielleicht sagen, dass das Kind für eine Art Überlebenslust steht; dass es weitergeht. Ich habe das Schreiben über die Säuglingspflege tatsächlich sehr genossen (lacht). Eine Sache dabei war echt interessant: ich hatte zum Beispiel gedacht, dass alles, was mit Stillen zu tun hat, in der Belletristik schon tausendmal beschrieben worden ist. Kann sein, dass ich das mit der Bildenden Kunst in einen Topf werfe, der feministischen Kunst, mit der ich gewissermaßen aufgewachsen bin, in der die stillende Mutter ein Klischee ist. Oder vielleicht auch im radikalfeministischen Journalismus oder so. Denn anfangs hatte ich das Problem, dass ich gar nicht wusste, wie ich die Sache anpacken soll. Also habe ich erst mal versucht, mir einen Eindruck davon zu verschaffen, wie Stillen und Säuglingspflege in Romanen beschrieben werden, aber ich habe so gut wie nichts finden können. Bis ich gemerkt habe, dass es mehr oder weniger unbeschrieben ist. Das war für mich fast eine Erleichterung, weil ich mich schon darauf eingestellt hatte, dass es eine zähe Angelegenheit werden würde, all die Klischees zu vermeiden und eine eigene Sprache dafür zu finden. Vielleicht ist das typisch, beziehungsweise – das hat mir eine Journalistin gesagt, als das Buch in Norwegen erschien – es ist typisch, dass man von vielen weiblichen Erfahrungen meint, sie seien schon ein Klischee, sie seien schon zu Tode geschildert – und dann stellt man fest, es ist gar nicht so.
Können wir auch bitte ganz kurz erwähnen, wie ungemein cool die Autorin ist? Vorwarnung, bei der Bildersuche bekommt man Schweden-Neid. Ihr wisst schon was ich meine, warum sind die immer mit so einem badass Stil und lässigen Gesichtsausdrücken gesegnet? Kommt daher auch diese unglaublich klare, mir sehr entgegenkommende Sprache? Ist das etwas Schwedisches? Oder ist die Frau Rumqvist einfach eine coole Sau? Jedenfalls braucht sie keinen sprachlichen Schnickschnack. Und fürs Phrasenschwein: Mütter haben keine Zeit für Schnickschnack.Karolin Rumqvist ist Mutter. Vielleicht ist ihr dieses Buch deshalb so gut gelungen. Ich empfehle es weiter.
Als ich im Sommer 2012 mit dem Buch angefangen habe, war meine Kleinste eigentlich noch ein Baby, sie war vielleicht sieben Monate oder, halt, nein, vielleicht neun Monate alt. Aber ich habe am Anfang überhaupt nicht gedacht, dass das ein Buch werden soll, es war ziemlich lang einfach nur eine Art Textexperiment für mich selbst. Und im Jahr darauf, als es dann doch ein Buch wurde, hatte ich das Gefühl, dass ich vermutlich nicht noch einmal Mutter werde – ich habe ja drei Kinder, was relativ viel ist, und da fing ich an, diese Empfindungen zu sammeln, wie es sich anfühlt, wenn man sich um einen Säugling kümmert, was es mit einem macht. Ich habe es irgendwie genossen, das in den Roman einfließen zu lassen, es schwarz auf weiß gedruckt zu sehen, auch für mich selbst, weil ich mir vielleicht gedacht habe, das ist etwas, was du nie wieder erleben wirst. Und anders, als man vielleicht meinen könnte, hat sich das Schreiben über Säuglingspflege deshalb überhaupt nicht einengend oder banal angefühlt; weil ich gemerkt habe, dass es mir entgleitet und bald hinter mir liegt. Ich habe eben nicht mehr drin gesteckt, ich schreibe nie gern über etwas, worin ich mich gerade befinde.
Und überhaupt, eine kurze Textstelle muss ich dann doch zitieren. Wo kann ich den Antrag für so einen Spielplatz ausfüllen bitte?
In der Mitte war das Kopfsteinpflaster gegen ein weiches Material ausgetauscht worden, und ein Klettergerüst stand dort. Kinder in dicker Winterkluft spielten darauf, während ihre Eltern in Decken gehüllt unter großen Wärmestrahlern saßen und Bier und Champagner tranken.
Eine andere schöne Rezension von der von mir sehr verehrten Katrin Rönicke auf Pinkstinks möchte ich an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen!
„Den vita staden“, Aus dem Schwedischen übersetzt von Antje Rávic Strubel, ISBN-13 9783550081330, Erschienen: 14.10.2016, 18,00 Euro.
Das Buch klingt sehr interessant, kam direkt auf meine Wunschliste.
Zum Thema Chimamanda Ngozi Adichie muss ich aber sagen, ihr Half of a Yellow Sun übertraf Americanah meiner Meinung nach um Längen! Darin wird sehr eindrücklich, jedoch nicht effektheischend, beschrieben, wie sich so ein Krieg „on the ground“ anfühlen kann. Nach der Lektüre war ich zutiefst dankbar um den Frieden hier, der auch für immerdar herrschen soll!