Sophie Portrait in Berlin. Thema: Schwangerschaft und Zwangsstörung

Wegen meiner Zwangsstörung will ich nie wieder schwanger sein!

Manchmal träume ich davon, nochmal schwanger zu sein. Ich meine nachts. Die diesbezüglichen Tagträume habe ich vor etwa drei, vier Jahren tränenreich verabschiedet. Ich hätte wirklich gern noch ein Kind gehabt, aber ich hatte auch wirklich Angst vor einer weiteren Schwangerschaft. Das Gefühl, das meine nächtlichen Träume in mir auslösen, spricht Bände: Sie machen mich beklommen. Leider kann ich noch nicht mal im Traum sorgenfrei sein und meine Schwangerschaft genießen, denn auch dort lauert die Realität. Das finde ich wirklich schade. Wenn ich aufwache, bin ich froh, dass es nur ein Traum gewesen ist.

Ich bin wahnsinnig gern Mutter – und wahnsinnig ungern schwanger.

Dafür, dass es so ist und dass ich nicht dem Bild der glücklichen Schwangeren entsprechen konnte, habe ich mich immer geschämt und tue es vielleicht auch heute noch. Ich habe einer Norm nicht genügt, an die ich zwar selbst nicht glaube, die aber in der Gesellschaft so stark verankert ist, dass ich es nicht geschafft habe, mich davon freizumachen. Schwangere haben die ganze Zeit glücklich zu sein – oder etwa nicht?

Ich war es nicht und einen wesentlichen Anteil daran hat meine Zwangsstörung. Sie hat mich sorgenvoll bis panisch werden und schlimme Dinge denken lassen, hat mich durchgewalkt und umgekrempelt. Der schwangerschaftsbedingte Hormoncocktail und die monatelange Übelkeit haben wahrscheinlich ihren Teil dazu beigetragen. Ich habe mich über weite Strecken meiner drei Schwangerschaften nicht gut gefühlt habe, wobei die erste am besten verlief und es danach steil bergab ging. Meine drei Töchter sind neun, zwölf und vierzehn Jahre alt. Sie wissen von meiner Zwangsstörung, aber sie wissen nicht, wie viele Federn ich deshalb in meinen Schwangerschaften gelassen habe. 

Zwangsstörungen scheinen mir im Gegensatz zu Depressionen oder Angststörungen kein Thema zu sein, sie sind eher unbekannt oder werden zumindest nicht mit größerer medialer Aufmerksamkeit beschrieben. Und obwohl ich betroffen bin, empfinde selbst ich zwangshafte Verhaltensweisen oft als seltsam und neben der Spur. Neben den grundsätzlich nachvollziehbaren Gefühlen von – mal einfach ausgedrückt – Trauer, Lustlosigkeit und Erschöpfung bei einer Depression und Ängsten bei einer Angststörung wirken Zwangshandlungen und -gedanken extrem deplatziert, teilweise sogar verrückt, und lassen sich von außen kaum nachvollziehen.

Menschen mit einer Zwangsstörung haben zum Beispiel einen starken inneren Drang, bestimmte Handlungen ausführen: Hände waschen, um sicherzugehen, dass sie sauber sind, an Türen rütteln, um zu überprüfen, ob sie auch wirklich verschlossen sind, nach dem Herd schauen, um sich zu vergewissern, dass er ausgeschaltet ist. Manche Betroffene müssen immer wieder bestimmte, vor allem unangenehme oder beunruhigende Dinge denken. Das heißt: Es gibt Gedanken, die sich einem regelrecht aufdrängen und man ist vollkommen machtlos dagegen.

Sie können sich etwa darum drehen, dass man selbst gewalttätig wird oder abstruse Dinge tut. Ich hatte zum Beispiel eine lange Phase, in der ich mich sehr vor achtlos auf den Boden geworfenen Taschentüchern geekelt habe. Meine Sorge: ich könnte die Taschentücher anfassen – unbemerkt und gegen meinen Willen. Die ganze Szene sah ich dann vor meinem geistigen Auge, was sie noch realer machte. 

Ich kenne nicht nur Zwangsgedanken, sondern auch Zwangshandlungen. Zwanghafte Verhaltensweisen hatte ich schon als Kind, das ist ziemlich typisch. Ich habe zum Beispiel beim Lesen vor- und zurückgeblättert und die Seitenzahlen kontrolliert, um sicherzugehen, dass ich nicht aus Versehen eine Seite überspringe und wichtige Passagen verpasse. Das würde einem natürlich sofort auffallen, weil der Satz nicht richtig weitergeht. Das war mir klar.

Aber auch das gehört zur Störung: Wer eine Zwangserkrankung hat, hält die Rituale und wiederkehrenden Gedanken meist selbst für unsinnig, kann sie aber trotzdem nicht abstellen. So war es auch bei mir. Ich musste unbedingt sichergehen, dass ich nichts verpasse – und blätterte vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück. Zwangsstörungen kosten viel Zeit und Nerven. Schwangerschaften sind bekannt dafür, dass sich die Symptomatik währenddessen verschlimmern kann.

Ich wusste das nicht – und das war auch sehr gut so.

Ich habe es tatsächlich geschafft, mich durch drei Schwangerschaften zu manövrieren, aber es hat mich sehr viel Kraft gekostet. Ich finde, dass Worte oft nicht ausreichen, um Gefühle zu beschreiben. Man liest sie, aber man spürt nicht, wie es in demjenigen ausgesehen hat, während ihn zum Beispiel Sorgen zerfressen haben, wie schlecht es ihm dabei gegangen ist. Und vieles lässt sich wahrscheinlich nicht nachvollziehen, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Aber vielleicht gibt es dennoch Frauen, die sich in dem wiederfinden, was ich beschreibe.

Während meiner ersten Schwangerschaft kreisten viele meiner Sorgen und Zwänge um meine Ernährung. Ich habe mich wahnsinnig verantwortlich dafür gefühlt, wie sich meine Tochter in meinem Bauch entwickelt, ich wollte unter keinen Umständen etwas falsch machen und hatte große Angst vor Lebensmittelinfektionen, die sie schädigen könnten. Ich weiß auch nicht, wieso ich mir gerade diese Sorge herausgesucht habe oder vielmehr: wieso sie sich mich ausgesucht hat.

Es hätte wahrscheinlich auch jedes andere Thema sein können, Hauptsache, ich hatte etwas, über das ich mir den Kopf zerbrechen konnte. Ich hatte zum Beispiel gelesen, dass Schwangere keine Käserinde essen sollen. Das passiert ja nun wirklich nicht so häufig. Wir hatten ohnehin nur Scheibenkäse ohne Rinde zuhause. Trotzdem habe ich auch von dem immer den äußersten Rand abgeschnitten, einfach um sicherzugehen.  

Als meine erste Tochter auf die Welt kam, wurde es mit den Zwangsgedanken schlimmer. Ich hatte große Angst, dass ich ihr etwas antun könnte. Gegen meinen Willen. Ich weiß, wie verrückt das klingt. Aber auch solche Gedanken können Teil einer Zwangsstörung sein, die von Person zu Person oft sehr unterschiedlich ist. Ich habe lange Zeit sehr unter diesen Gedanken gelitten, mich geschämt und mit fast niemandem darüber gesprochen. Nur mein Mann und meine Psychotherapeutin wussten davon. Erst sehr viel später habe ich wenigen anderen von diesen Ängsten erzählt, aber auch das nur in Teilen. 

Während meiner zweiten Schwangerschaft sorgte ich mich vor allem um meine Gesundheit, nicht so sehr um die meiner ungeborenen Tochter. Ich war schwanger, als die Schweinegrippe grassierte, an die sich kaum jemand außer mir erinnert und die neben Corona erst recht vollkommen verblasst ist. Aber Schwangere galten als besonders gefährdet – Grund genug für mich, im Jahr 2009 ab und zu im Bus einen Mundschutz zu tragen. Nachdem in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft ein Knoten in meiner Schilddrüse entdeckt worden war, kam dann noch die Sorge vor einer Krebserkrankung hinzu.

Über meine dritte Schwangerschaft bin ich am unglücklichsten. Ich war eigentlich die ganze Zeit lang angespannt. Meine größte Sorge klingt lächerlich, wenn ich sie hier aufschreibe, aber der Gedanke hat mich richtiggehend verfolgt: dass ich meine dritte Tochter nicht so würde lieben können wie die beiden anderen, dass wir als Familie nie zusammenwachsen würden, dass sie ein Fremdkörper bleiben könnte, dass ich ihr keine gute Mutter sein würde. Diese Gedanken haben mich nicht mehr losgelassen, fast neun Monate lang hatte ich Angst, die falsche Entscheidung getroffen zu haben.

Ich war nicht nur besorgt! Ich hatte wirklich richtiggehend Angst, die sich auch körperlich auswirkt hat. 

Natürlich hat sich keiner meiner Zwangsgedanken je bewahrheitet, meine größte Tochter ist wohlbehalten auf die Welt gekommen, ich habe ihr nie auch nur ein Härchen gekrümmt. Während meiner zweiten Schwangerschaft bin ich gesund geblieben. Und meine dritte Tochter liebe ich ebenso wie die beiden anderen von ganzem Herzen. Dennoch kann ich aus diesen Erfahrungen nicht lernen.

Meine Zwangsstörung ist resistent dagegen, ebenso wie gegen die Vernunft. Ich wüsste: Wäre ich noch einmal schwanger, ginge alles von vorn los: Sorgen und Ängste und Handlungen, die Unheil von mir oder dem ungeborenen Kind abhalten sollen. Ich habe es einfach nicht geschafft, mich dem nochmal zu stellen. 

Während meiner Schwangerschaften habe ich mich mit meiner Zwangsstörung oft ziemlich allein gefühlt. Ich glaube, es hätte mir geholfen, mich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Aber ich wusste nicht, wo ich sie hätte suchen und finden können. Wahrscheinlich hätte es mir auch gutgetan, einen Beitrag wie diesen hier zu lesen. Das ist der Grund, warum ich jetzt über meine Erfahrungen schreibe.

Sophie schreibt auf ihrem Blog sophiebloggt.com über ihr Leben und ihre Familie, besonders gern über erste und letzte Male. Die sind ja oft entscheidend im Leben.

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