Die Anfrage kam spontan. Ob ich eine Moderation übernehmen kann, die Autorin ist Anna Brüggemann, es sollen zwei Romane vorgestellt werden. Ich sagte zu und begann, das erste Buch zu lesen. Ich konnte nicht aufhören. Dann begann ich mit dem zweiten. Noch einmal, ich konnte nicht aufhören. Diese Charaktere waren mir so nah, ich wollte überhaupt nicht, dass es aufhört. Über Anna wusste ich nichts. Nach unserem gemeinsamen Abend war mir aber klar, die müsst kennenlernen. Vor allen Dingen sollt ihr beide Bücher lesen! Deshalb habe ich mir die Freiheit genommen und einfach alles zu den Romanen gefragt, was mir in den Sinn kam.
„Trennungsroman“ erschien 2021, und 2024 als Taschenbuch. „Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen. Roman über Mütter und Töchter“ erscheint am 31. Oktober 2024.
Liebe Anna, stell dich doch mal bitte vor.
Hallo, ich bin Anna. Ich bin 43 Jahre alt, habe zwei Kinder, wohne in Berlin (schon sehr lange), schauspiele, seitdem ich 15 bin, schreibe Drehbücher, seitdem ich 24 bin, und das Roman schreiben habe ich immer irgendwie gemacht, aber sehr lange nur für mich alleine.
An welchem Punkt wusstest du, dass du einen Roman schreiben möchtest?
Die Idee zu den Kampfhunden hatte ich im Endspurt von Trennungsroman, Trennungsroman hinwiederum sollte erst ein Film werden. Als ich elf war, habe ich in so ein Freundinnenbuch bei Berufswunsch geschrieben: „Schriftstellerin, Nonne.“ Nun ja.
Von schreibender Mutter zur anderen: wann schreibst du? (Hast du geheime Tricks?)
Nicht so richtig, außer Disziplin, Disziplin, Disziplin. Dieses Wissen, dass man jetzt nur x Stunden hat, und die eben nutzen MUSS, denn wenn man das nicht tut, passiert den ganzen Tag gar nichts mehr, das ist auf Art erdrückend, auf der anderen Seite auch hilfreich. Was mir auch hilft, zwanzig Minuten Yoga, bevor es an den Schreibtisch geht, WLAN aus und Handy auf ‚nicht stören‘.
Du lebst in Berlin, hast du irgendwelche Tipps für Eltern, was sie mal ausprobieren sollen?
Oha, nein. Andere Eltern könnten gerne mal für mich so eine Unterwelten Tour machen und mir sagen, ob das was geeignetes ist. Einmal im Jahr gehe ich mit meinen Kindern an den Ku’damm. Als Ferienerlebnis ins KaDeWe. Meine Kinder waren noch nie am Brandenburger Tor. Unser Kiezleben ist wahrscheinlich dörflicher als so manches Dorfleben.
Ich weiß, dass dein Kind auch viel liest. Was ist bei euch gerade angesagt?
Als letztes wurden hier die vier Spiegelwelten Wälzer von Cristelle Dabos weggesuchtet, ich habe den ersten Teil auch gelesen und fand ihn wirklich gut. Die Heldin ist auf so eine unaufgeregte, selbstverständliche Art feministisch, ist in ihrer Ehrlichkeit so mutig, dass es mich nachhaltig beeindruckt hat.
Vor Kurzem ist die Taschenbuchausgabe von deinem Debütroman ‚Trennungsroman‘ erschienen. In diesem Buch lernen wir Thomas und Eva kennen. Kannst du die Geschichte in einem Satz zusammenfassen?
Thomas und Eva, beide Ende zwanzig, sind seit acht Jahren ein Paar, Eva kommt von einem Auslandsaufenthalt wieder, man könnte jetzt den nächsten Schritt machen, Thomas ist sich aber nicht mehr sicher, redet allerdings nicht darüber.
Ich wusste zunächst nicht, wen ich unsympathischer finden sollte. Gibt es einen klaren Bösewicht?
Ich mag eigentlich beide. Wieso unsympathisch? Und Bösewicht, nein. Thomas ist halt schwer zu ertragen, weil er nicht sagt, was mit ihm los ist. Aber das fand ich ja gerade das faszinierende, jemand, der zu einem ‚anständigen jungen Mann‘ erzogen wurde, und an der Oberfläche scheint alles zu passen, aber die eine grundlegende Sache, zu sagen, wen man liebt, die bekommt er nicht hin.
Vielleicht finde ich sie unsympathisch, weil ich viel pragmatischer bin. Das ist mir alles zu viel Gedenke für meinen Geschmack. Thomas und Eva sind zudem beide extrem privilegiert. Fiel es dir schwer, einen Zugang zu diesen Protagonisten zu finden?
Nein, das ist die Bubble, in der ich mich seit Jahren bewege und die ich gleichzeitig schon lange beobachte. Ich selber komme aus einer seltsamen Mischform, meine Eltern waren zwar Akademiker, aber mein Vater war paranoid und nicht wirklich arbeitsfähig, dafür zwischendurch fanatisch katholisch. Meine Zwillingsschwester ist spastisch behindert, wir waren also immer irgendwie Aliens, wenn wir irgendwo auftauchten. Eine gute Beobachterposition.
Zurück zu Thomas und Eva, sie sind privilegiert, ja, aber ich würde nicht sagen ‚extrem‘ privilegiert. 54% der Anfang Zwanzigjährigen studieren, ein von sechs Studierenden erhalten BAföG, ein Großteil bekommt also das Studium finanziert oder finanziert es zum Teil mit. Beide studieren an einer staatlichen Hochschule und sind darauf angewiesen, nach dem Studium zu arbeiten.
Einzig, dass Thomas Eltern den beiden eine Wohnung kaufen wollen, ist wirklich sehr privilegiert. Da ist Geld vorhanden. Allerdings auch nicht so viel, dass die beiden nicht arbeiten müssten oder ihr Leben damit zubringen könnten, das elterliche Erbe zu verwalten. Die beiden sind obere Mittelklasse, aber ich glaube, vor allem Thomas sieht nicht, wie gut er es hat.
Glaubst du, dass Thomas und Eva wissen, wie privilegiert sie sind?
Sie sind ja, wie gesagt, nicht die einzigen, die diesen Lebenswandel führen. Thomas sieht sein Leben eher als Bürde, er hat ja auch als Arzt einen Beruf gewählt, mit dem man ziemlich scheitern kann. Eva ist ein politischerer Mensch, sie fühlt sich durchaus privilegiert, aber das hilft ihr auch nicht weiter, als Thomas sie verlässt und ihr Lebensplan platzt.
War es denn jetzt schlussendlich klug von Eva, nach Paris zu gehen, oder wäre sie noch mit Thomas zusammen, wenn sie nicht gegangen wären?
Oh, ich liebe diese Frage! Ich glaube, sie wären noch zusammen, hätten zwei Kinder bekommen und irgendwann gar keinen Sex mehr. Beide wären als Menschen insgesamt etwas ‚gedimmt‘.
Welche Rolle spielen die Eltern von Thomas und Eva?
Thomas ist mehr Sohn als Freund, die Abnabelung von den dominanten Eltern hat noch nicht stattgefunden, beziehungsweise findet durch die Trennung von Eva tragischerweise mit statt.
Eva hat von ihrem Vater viel mehr Liebe mitbekommen als Thomas von seinen Eltern. Und von ihrer Mutter mehr Einsamkeit. Sie ist dadurch insgesamt freier.
Ist die Affäre mit Menschen von der Arbeit ein Klischee oder bittere Realität?
Ich würde sagen Realität, ob bitter weiß ich nicht.
Ist am Ende alles gut?
Für Thomas schon. Für Eva auch. Irgendwann später.
‚Wenn nachts die Kampfhunde spazieren gehen‘ heißt dein neuer Roman und ich muss sagen, wow, was für ein Buch, ich habe es inhaliert im Urlaub! Warum war es dir wichtig, dass auf dem Cover ‚Roman über Mütter und Töchter‘ steht?
Ohne den Untertitel wäre mir der Titel zu sehr im luftleeren literarischen Raum schwebend gewesen. Oder man hätte gedacht, es ist ein Krimi. Und jetzt erscheint das Buch auch noch an Halloween…
Regina ist die Mutter von Antonia und Wanda. Fast jede ihrer Aktionen und Aussagen hat mich entweder zum Augenrollen oder zum Kinnlade runterfallen lassen gebracht. Ist Regina extrem oder ein Abbild der Frauen der Nachkriegsgeneration?
Ich würde sagen, sie ist ein extremes Abbild.
Du hast gesagt, wenn wir über Frauen in den 90ern sprechen, müssen wir über Essstörungen sprechen. Warum?
Ich bin damit aufgewachsen, dass die Schulkameradinnen, als wir zwölf waren, darauf geschielt haben, welche Weite man bei der Levis Jeans haben würde. Dann kam Kate Moss. Bei meiner Mutter und Tante war die „Brigitte Diät“ hoch im Kurs. Die waren ihrerseits noch darauf gedrillt, aussehen zu müssen wie Grace Kelly oder Audrey Hepburn. Als ich mit 15 angefangen habe zu drehen, war das erste, was man mir sagte: „Vorsicht, vor der Kamera ist man immer plus sieben Kilo!“
Die Angst vor zu weiblichen Frauenkörpern war allgegenwertig, Frauen durften gesellschaftlich nur stattfinden, wenn sie sich reduzierten.
Ich kenne fast keine Frau aus meiner Generation, die nicht irgendwann einmal ein Thema mit Essen hatte. Zumindest aus dem Westen, da hast Du mich ja darauf hingewiesen, dass dieses Esstörungsding auch ein klares BRD-Thema war.
Dein Roman spielt in Bielefeld und viel passender hätte ein Schauplatz für diese Geschichte nicht sein können. Was an Bielefeld passt so gut zu Regina und ihren zerstörten Träumen?
Ich brauchte eine Stadt, die keine Großstadt ist, in der man sich verlieren würde und dadurch auch ein bisschen freier wäre, ich brauchte ein enges soziales Gefüge, vor dem man bestehen will, vor dem es einem aber auch peinlich ist, wenn zum Beispiel die Tochter essgestört ist. Gleichzeitig wollte ich eine Uni-Stadt haben, da Regina ja gerne eine akademische Laufbahn eingeschlagen hätte, das soll ihr also immer vor der Nase baumeln.
Ich wollte keinen zu großen regionalen Einschlag haben, wie in Bayern, Baden-Württemberg oder im Norden, ich wollte etwas prototypisch-westdeutsches, satt, finanziell abgesichert. Braunschweig oder Kassel wären zum Beispiel auch in Frage gekommen. Aus Kassel kommt allerdings meine Mutter, das wäre seltsam gewesen.
Ich habe ja wie gesagt Kinder, und nicht ewig Zeit und Geld für Recherche. Ich musste die Stadt also schon halbwegs gut kennen. Mein Mann kommt aus Bielefeld. Das ist des Rätsels Lösung.
Ist Regina neidisch oder verbittert? Warum kann sie scheinbar nicht glücklich sein?
Regina hat die tiefsitzende Angst, nichts zu gelten, nichts zu sein. Sie ist neidisch auf alle, die einfach ihren Weg gehen, sie vergleicht sich ständig und meist fällt der Vergleich für sie negativ aus. Um dieser ständigen, eigenen Erniedrigung zu entgehen, erhöht sie sich permanent oder macht andere klein. Verbittert ist sie vielleicht auch, einfach, weil sie sich von ihren Eltern nicht gesehen gefühlt hat.
Ja, warum kann sie nicht glücklich sein… Ich glaube, weil sie aus Angst vor dem Leben und auch, weil die gesellschaftlichen Umstände es nicht hergaben, nicht das Leben geführt hat, das ihrer Kraft, ihrer Neugier und ihren Talenten entsprochen hätte. Für Regina wäre viel besser gewesen, sie und Edgar hätten Rollen getauscht. Und für Edgar auch.
Antonia und Wanda sind Schwestern, sie haben beide eine schwierige Beziehung zu ihrer Mutter. Warum rebellieren sie nicht schon viel früher?
Regina ist die Königin der Familie, eine Rebellion käme einer Selbstauslöschung gleich. Ich habe außerdem die Erfahrung gemacht, dass eine wirkliche Abnabelung vom Elternhaus oft erst in den Zwanzigern passiert. Manchmal noch später. Diese innerfamiliären Kräfte sind oft erschreckend stark.
Regina haut wirklich einen geilen Spruch nach dem anderen raus, die hat mir viel Freude bereitet, echt. „Wenn man Talent hat, hat man auch Verantwortung. Da kann man sich nicht einfach ins bildungsbürgerliche Schönwetter-Leben zurückziehen.“ Ist das schon Feminismus?
Nein, das ist die Wut der Figur Regina, dass Wanda aus dem stillschweigend von Regina für diese gefassten Lebensplan ausscheren will.
„Mama! Kannst du nicht ein Mal was Positives über irgendjemanden sagen?“ Warum kann Regina das nicht?
Weil sie sich selber keine Größe gönnt. Und so kommt es, dass auch nie jemand was Positives über sie sagt. Ein Teufelskreis.
Welche Rolle spielt Edgar eigentlich?
Nun ja, eine geringe. Eine unrealistisch geringe, um ehrlich zu sein. Aber ich wollte ein Buch schreiben, in dem die Männer wirklich nur Randfiguren sind.
Edgar liebt Regina wirklich, er bewundert sie, und er fühlt sich ihr nicht gewachsen. Er liebt auch seine Töchter sehr. Und gleichzeitig muss er ertragen, dass Regina insgeheim wütend auf ihn ist. Sie sieht in ihm einen Verhinderer. Aber ich würde sagen, die Zeit, in der die beiden leben, war eher ein Verhinderer.
Was hätte Regina als Mutter besser machen können?
Sich ein wenig mehr zurücklehnen, die Kinder einfach so sein lassen, wie sie sind, und wenn sie Kummer haben, sie in den Arm nehmen.
Regina kann sich ‚Schöneres vorstellen, als sich die ganze Zeit um ihre Enkeltochter zu kümmern‘. Ist es ihr gutes Recht, das zu sagen?
Ja, auf jeden Fall. Allerdings wäre es netter, sie würde das zu einer unbeteiligten Freundin sagen, und nicht zu ihrer Tochter.
Deine Kampfhunde haben mir einen unfassbaren Einblick in die deutsche Gesellschaft gegeben. Als Deutsche mit Migrationsgeschichte stehe ich manchmal ratlos vor meinen Freundinnen und verstehe ihre Probleme nicht. Es hat mich schockiert, wie Familie in diesem Roman gelebt wird. Warst du dir beim Schreiben bewusst, wie krass das alles ist, oder fandest du es ‚normal‘?
Oh nein, ich fand es furchtbar. Diese Spitzen zwischen Müttern und Töchtern kommen ja auch oft in Alltagssituationen raus, die erstmal banal wirken. Ich balancierte also auf dem schmalen Grat zwischen banal und toxisch.
Ich glaube, als Gegengift schreibe ich als nächstes ein Jugendbuch. Mit geheimen Zweitwelten und Wundern.
Fotos: Kai Senf
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