Hauptstadtmutti

Nadire Biskin: „Als Berlinerin fühle ich mich entfremdet in Berlin“

Nadire Biskin und ich haben uns im März in München kennengelernt. Wir durften beide auf dem Wortspiele Festival lesen, für mich war es meine allererste Lesung überhaupt und wir fanden schnell zueinander. Vielleicht ist es ein Migra-Kind-Ding, sich gegenseitig in einem Raum zu finden, in dem man sich fremd, vor allen Dingen aber nicht wohl, fühlt. Oder ein Arbeiterkind-Ding? Für mich ist der Literaturbetrieb nach wie vor ein Mysterium, doch an dem Abend war es vor allen Dingen das große Unbekannte. Nadire ist ein Mensch, der einen sofort an die Hand nimmt und erst einmal willkommen fühlen lässt.

Ein Spiegel für mein Gegenüber, Nadire Biskins Debütroman erschien im Februar im dtv Verlag. Ich hatte schon vor unserem Treffen viel darüber gehört und war sehr gespannt. Berlin, Mutterschaft, Bildung, Gastarbeiterfamilie, Flucht, Migration, alles dabei, was mich interessiert.

Liebe Nadire, stell dich bitte vor.
Ich heiße Nadire Biskin, komme aus Berlin-Wedding und bin dementsprechend in Social Media unter „Hannah Arendt des Weddings“ bekannt. Vielleicht sollte ich etwas „CV-Kapital“ an dieser Stelle erwähnen? Ich bin Lehrerin und Autorin. Mein Debütroman ist im Februar diesen Jahres erschienen. 

Du bist Berlinerin, magst du uns erzählen, wie es war, in Berlin aufzuwachsen?
Da ich nichts anderes kannte, war es ganz normal für mich. Ich wuchs wie ein gewöhnliches Kind aus einer türkischen Gastarbeiterfamilie auf. Weiße, deutsche Kinder sah ich wenig in meiner Kindheit und wenn, dann eher im Fernsehen. Wir hatten einen kleinen Radius, mein Bruder und ich. Selten verließen wir den Weg. Die meiste Zeit verbrachten wir auf Hinterhöfen und Spielplätzen. Dass andere Menschen ganz anders aufgewachsen sind, habe ich später begriffen.

Lebst du gerne in Berlin?
Ich liebe es mit der U-Bahn in Berlin unterwegs zu sein und dass ich hier die Möglichkeit habe, meine Augenbrauen professionell gezupft zu bekommen. Vermutlich kann ich nur in einer Großstadt leben, aber mittlerweile fühle ich mich auch etwas entfremdet durch die ganze Gentrifizierung. 

Bist du ein Familienmensch?
Schwieriges Thema. Vermuten viele, weil ich einen türkischen Hintergrund habe und eine Frau bin. Ich hinterfrage das Konzept von Familie sehr stark, ohne die heteronormative Komponente wäre es schöner und einfacher. Dennoch bin ich es vermutlich, auch wenn ich noch nicht weiß, was meine Rechte und Pflichten als Tochter, Schwester, Cousine oder Enkeltochter sind. 

Klassenherkunft der Eltern beeinflusst Bildung in Berlin

Als Lehrkraft kriegst du viel mit über Berliner Schulleben, was beobachtest du?
Ich dachte, ich weiß wie das Schulleben in Berlin ist. Ich bin hier zur Schule gegangen, habe auf Lehramt an der Humboldt Universität Philosophie und Spanisch studiert und mein Referendariat an zwei Berliner Schulen absolviert.  Mein Vater und seine Geschwister sind in Berlin zur Schule gegangen. Mein Vater hat damals eine Ausländerklasse besucht und war nie in einer sogenannten Regelklasse. Heute sehe ich ähnliche Schulbiographien. Ich habe in den letzten Jahren nochmal dazu gelernt. Bildung in Berlin ist immer noch sehr stark unter anderem von der Klassenherkunft der Eltern beeinflusst. Erfreulicherweise wusste ich das alles aber nicht als Schülerin. Es hätte meine Selbstwirksamkeit vermutlich eher negativ beeinflusst.

Nutzt du Social Media und wie siehst du dein Verhältnis zu deinem Nutzverhalten und den Apps?
Oh ja, früher bin ich von der Realität geflüchtet, in dem ich Social Media benutzt habe. Mittlerweile flüchte ich auch von Social Media. Stichwort: detox (lacht) Ich habe Facebook, Instagram und Twitter. Vor allem die letzten beiden benutze ich oft.

Ich lerne dort viel, informiere, bin semi-professionell im Auftreten, wie immer. Ich denke, wir sollten den Umgang mit den neuen Medien nicht verfluchen. Es gab schon immer konservative Stimme, das war früher mit Radio oder Fernsehen auch der Fall. Es macht viel mehr Sinn, den richtigen Umgang damit zu lernen und die Ambivalenz auszuhalten. 

Mutterschaft vor dem Hintergrund von Kategorien wie race und class

Dein Buch ‚Ein Spiegel für mein Gegenüber‘ erschien dieses Jahr und spielt unter anderem in Berlin. Wie kam es zu genau diesem Buch und worum geht es genau?
Das ist eine lange Geschichte und ich kann sehr, sehr viel über mein Buch, über die Figuren, die sprechenden Namen erzählen (lacht). Ich habe 5-6 Jahre an diesem Buch gearbeitet. Die Entscheidung ein Buch zu schreiben, hat auch mindestens so lange gedauert, wobei mir viele Bekannte und Freund*innen nahe gelegt haben, zu schreiben.

Was auf jeden Fall dazu beigetragen hat, ist die Frage der Mutterschaft vor dem Hintergrund von Kategorien wie race und class. Die Frage der Mutterschaft ist ja gesellschaftlich fast eine organische frage. Sie wird einem gestellt und irgendwann stellt man sie sich selbst auch. Gleichzeitig habe ich mit dem Referendariat angefangen und wusste, alle um mich rum und ich, wir überleben uns nur, wenn ich einen Roman schreibe, in der die Hauptfigur eine Referendarin ist. So entstand Huzur Özyabanci (Bed. Harmonie Urfremde), eine junge Weddinger Bildungaufsteigerin, die irgendwann eskaliert, zu ihre Familie flüchtet und der jungen, unbegleiteten Geflüchteten Hiba begegnet.

Wie war der Schreibprozess und was hast du seit Erscheinen des Buches erlebt? 
Der Schreibprozess war turbulent. Ich habe jede freie Minute genutzt, da ich in der Schule gearbeitet habe und Carearbeit für Familienangehörige geleistet habe, hatte nur begrenzt Zeit. Der Schreibprozess ist eigentlich ein Schrei. Schreiben und schreien sind ja ganz nah bei einander.

Ich habe einen dreiseitigen Brief von einem Volkswirt bekommen, der mir erzählen wollte, das sei alles Scheiße und nicht wahr. Ja, hallo, ist ja auch ein FIKTIONALER Text. Ich bekomme aber sehr viel positiven Zuspruch. Viele verschenken das Buch an eine Lehrerin, teilen sie mir mit. Andere sagen „Endlich ein Buch, in dem wir vorkommen.“, wieder andere gestehen, dass sie so viel dazu gelernt haben. Also alles nach der Erscheinung ist eine Achterbahn wie vor der Erscheinung. Nach dem Buch ist ja auch irgendwie vor dem (nächsten) Buch. 

Für wen ist dein Buch?
Die Widmung im Buch lautet: für Schüler*innen (ndH) und für (angehende) Lehrer*innen (ndH), für 65. Das Buch ist aber auch für Menschen, die sich beim Lesen ärgern würden. Sie ist vor allem, vermutlich wie alles, was ich schreibe,  für jene, die von einer Fragen ausgehend auf der Suche nach Antworten, nur weitere Fragen finden. Für uns ist das Buch. Ganz egoistisch, für mich. 

Danke, Nadire, für dieses Gespräch.

Alle Fotos: ©KaiSenf 

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