Hauptstadtmutti

Migrantenmutti: Sitzenbleiben

Ich erinnere mich gut an die Gesichter des anderen Kindes, in dessen Haus wir zu Besuch waren. Wir saßen beim Abendessen und mein Kind war vielleicht drei Jahre alt – nicht mehr ganz klein, aber noch nicht so richtig groß. Jedenfalls tat er etwas, was dem anderen Kind die Kinnlade runterscheppern ließ. Mein Kind stand auf, sagte ‚Danke‘ und ging spielen. Wir unterhielten uns normal weiter, doch dem anderen Kind stockte der Atem. Mein Kind musste nicht sitzenbleiben.

‚Wieso darf der aufstehen?‘

Ich war verdutzt. ‚Weil er fertig ist mit dem Essen.‘ Blöd wie ich war, stand ich ordentlich auf dem Schlauch. Das Scheppern von Körperteilen ging weiter, nun aber in meinem Kopf, ein Licht war mir aufgegangen. Ich erinnerte mich, dunkel, denn so oft waren wir damals nicht mit Kind abends bei Leuten ohne Migrationshintergrund. Und wenn, dann waren es party-ähnliche Zustände, und niemanden juckte es, wann wer aß. Nun, every day’s a party wenn du Migra bist, aber das hier war wohl ein reguläres Abendessen in den Augen unserer Gastgeber. Nothing fancy, ich möchte behaupten, dass es Pizza gab, aber wir setzten uns alle hin, machten diesen Piep-Piep-Quatsch und wünschten uns allen einen guten Appetit. Ich fühlte mich nicht nur deshalb zurückversetzt in den Kindergarten, sondern auch weil die kleinen Kinder um mich herum immer unruhiger wurden. 

Langsam fingen die älteren Brüder an, sich gegenseitig zu ärgern, zu scharren und das erste Glas fiel um. Nachdem mein Kind, welches das jüngste am Tisch war, also einfach aufgestanden war, blökte das andere Kind auch noch einmal: ‚Aber waruuuum?‘ Die Mutter spitzte die Lippen und zischte ‚Andere Familien haben andere Regeln, ihr bleibt sitzen.‘

Ich war kurz davor zu sagen, dass, also, wegen mir, könnten die restlichen Kinder sehr gerne aufstehen und erinnerte mich an wundervolle Abende mit Pizza abends vorm Fernseher, aber ich hatte da so ein Gefühl, dass das nicht angebracht wäre. Es tat mir ja auch wirklich leid, dass mein Kind völlig selbstverständlich einfach aufgestanden war, aber er war in dem Moment zu 100% das Produkt seiner Erziehung und seiner Sozialisierung und handelte innerhalb dieses Rahmens den Regeln entsprechend, die er von Geburt an kannte. Mir tat es aber leid, dass diese Aktion noch mehr Unruhe in die Tischdynamik gebracht hatte, aber noch mehr verstand ich es einfach nicht, warum die anderen Kinder nicht aufstehen durften. 

Das mit dem Sitzenbleiben…warum?

Es war kein regulärer Abend. Wir waren zu Besuch, wir hatten bereits gemeinsam zu Mittag gegessen und Kaffee getrunken, wir würden am nächsten Morgen auch gemeinsam frühstücken. Den gesamten Nachmittag über hatten wir Rehe und Ziegen gestreichelt und sind auf kalten Spielplatzbänken gehockt. Es gab nicht eine dämliche Geschichte, die ich noch nicht dreimal gehört hatte, oder Geschwisterstreit, der sich noch nicht genauso schon mal abgespielt hatte. An dem Abend wollte ich in Ruhe am Tisch sitzen, ein Glas Wein trinken und mich über erwachsene Sachen unterhalten. 

Als die Kinder und Männer dann irgendwann weg waren, frage ich sie dann doch: „Sag mal, das mit dem Sitzenbleiben am Tisch, warum macht ihr das?“

„Die essen sonst nicht und wollen dann später wieder etwas essen.“

Ich stutze und erinnere mich an eine halbe Stunde vorher, als penibel Bissen für Bissen der Kinder nicht nur analysiert wurde, sondern auch verhandelt. ‚Wenn du noch dreimal davon abbeißt, dann kriegst du 5 min länger von der Serie morgen.‘ Puh. Damn. Ist das die Lösung? Jedes Gramm Abendbrot zu kommentieren wie ein WM-Finale?

„Aber wäre es denn so schlimm, wenn sie jetzt nur ein bisschen was essen und später noch etwas? Sie haben Besuch, sie sind aufgeregt, morgen ist wieder Routine. Oder?“

Meine Freundin lacht es zwar weg, aber ihr Blickt sagt ganz klar, dass sie diese Idee nicht einmal im Ansatz gut findet. Ich hingegen denke auch noch Jahre später über dieses Thema nach, denn was mir an dem Abend noch nicht klar war, es aber inzwischen wurde: das mit dem Sitzenbleiben am Tisch? Es ist ein deutsches Ding. 

Ich frage meinen Freundeskreis. Kinderlos, hier geboren mit MH, woanders geboren, hier geboren ohne MH, kinderreich. Eine Mini-Studie von locker 20 Leuten bestätigt mir meinen Verdacht: Migra Kinder dürfen und durften aufstehen, wenn sie satt sind. Deutsche Kinder ohne MH mussten früher sitzen bleiben, als sie noch Kinder waren und manche handhaben es so weiter, andere haben es abgeschafft. Zunächst einmal, Respekt an diese erzieherische Leistung, also bei denen, bei denen es klappt.

Steh auf, wenn du satt bist

Ich finde eine Freundin, die es bei ihrem Kind anders macht. Wenn ihr Sohn satt ist, darf er aufstehen, muss aber woanders spielen, nicht in der Küche. Was sich für mich fair anhört. Sie hat es gehasst, am Tisch sitzenbleiben zu müssen und wollte das ändern. Ich frage sie, was sie glaubt, warum das in so vielen Familien durchgezogen wird. 

„Ich glaube, dass es um quality time als Familie geht. Wenn man sich den ganzen Tag nicht sieht, keine Zeit miteinander verbringt, dann will man das so lange wie möglich genießen.“

Freundin 1

Aber das genießt doch keiner, oder? Jetzt mal ganz im Ernst? Also was Leute in ihrem Alltag machen, ist mir ja wirklich latte. Aber sprechen wir doch über Besuchsszenarien. Durschnittlichlich laufen da vier Kinder rum. Als Kind war ich meistens Teil von Besuchsszenarien, wo es auch locker sechs, neun oder zwölf Kinder waren. Damals war das so: Die Kinder essen vorher oder an einem Kindertisch. Niemand hatte Bock, mit den Kindern zu essen und wenn die Kinder satt waren, dann sollen sie bloß gehen, damit man seine Ruhe hat. Das gilt für beide Sichtweisen, auch die Kinder sehen das Essen eher als Zwischenstopp, nicht als Main Event. Sie freuen sich also, wenn sie weiterspielen können. 

Das klingt nun wohl wieder alles etwas harsch. Doch woher kommt dieses Verlangen, an Regeln festzuhalten, die für den Alltag bestimmt sind? Oder ist das genau der Sinn von Regeln und ich verstehe es nicht? Ist das ‚Kinder müssen auch sitzenbleiben, wenn Besuch da ist‘ so wie das ‚an der roten Ampel stehenbleiben, auch wenn es 2 Uhr morgens ist und kein Auto kommt‘? Sind das nicht genau die Leute, die dann überteuerte Familienhotels buchen, in denen es Spielecken und Kindertische im Restaurant gibt?

Wer weiß, ich zumindest nicht. Oder es gehört einfach dazu. Dieses Sitzenbleiben, ruhig sein, es aushalten zu müssen, auf alle warten zu müssen. Vielleicht denken sie, so geht Gemeinschaft. Vielleicht geht es auch darum, Essenskultur zu lernen. Tischmanieren. Damit, wenn man essen geht, die Kinder gelernt haben, lange sitzen zu bleiben. Das kann sein, oder? Doch dafür gibt es doch Handys im Restaurant? Ach guck, direkt nächste Kolumne.

Zitate zum Sitzenbleiben aus meinem Freundeskreis

Niemand wird zu irgendwas gezwungen, nicht aufessen und nicht sitzenbleiben. Aber eigentlich hat sich das meistens eh erledigt mit dem Sitzenbleiben, weil die irgendwann aufs Klo müssen. Meine Oma und Opa sind ja Kriegsgeneration, die kannten Hunger, wie wir das einfach nicht kennen. Mein Opa hat also lang und ausführlich gegessen. Jeder Bissen war ein Geschenk an ihn und wurde gefeiert. Der war auch sehr dick irgendwann. Und wir alle mussten so lange sitzenbleiben, bis Opa fertig war. Was besonders an Weihnachten die Hölle war! Immer noch ein Running Gag zwischen meinem Bruder und mir. Was wir auch nicht durften: viel trinken beim Essen.

Freundin 2

Also das war bei uns früher nur ein Thema, wenn Großeltern (vor allem mütterlicherseits) da waren – oder wir bei denen. Zumindest mussten wir sitzen bleiben, bis die letzte Person auch fertig gegessen hatte. Zuhause war das nicht so streng, da durften wir aufstehen, wenn wir fertig waren, meine ich. Meine Kinder dürfen / durften einfach aufstehen, wenn sie fertig sind mit Essen. Bei der Jugendlichen find ich schon auch, dass sie in der Regel mit uns am Tisch bleiben soll, bis wir soweit durch sind. Aber nicht als starre, blöde Regel, meistens ergibt es sich eh so. Und wenn sie mal mit der Kleinen früher aufsteht, oder dringend ihre BFF anrufen will oder was auch immer, ist das auch total okay.

Freundin 3

Es gibt drei Szenarien, die ich skizzieren will. Erstes Szenario: Die großen Kinder bei uns sind zwischen 8-14 Jahren alt. Dadurch, dass wir im Wechselmodell leben, sind unsere gemeinsamen Mahlzeiten sowieso schon weniger. Dazu kommt, dass die Kinder tagsüber einfach Busy sind, genau wie wir und deshalb wird bei uns abends richtig groß aufgefahren und damit meine ich auch wirklich groß! Von den großen Kindern verlangen wir deshalb Respekt für die Zeit, die wir investiert haben und außerdem ist das einfach unsere Quality Time als Familie. Ich meine, wir reden hier von einer halben Stunde. Und natürlich wollen die auch irgendwann aufstehen, gerade der Jüngste der älteren Kinder langweilt sich dann sehr. Tatsächlich ist es dann aber so, dass dadurch Gespräche entstehen, die sonst nicht entstehen würden.
Zweites Szenario: Sind die Patchworkkinder nicht da, sitzt nur der 2,5-Jährige mit uns am Tisch. Wenn er denn kommt. Und wenn er nicht mehr will, steht er auf. Das ist aber auch so, wenn die Großen da sind. Ich habe einfach keinen Bock auf den Streit. Irgendwann später werde ich ihn auch zwingen, aber noch nicht.
Drittes Szenario: Bei Besuch? Scheißegal. Kommt, esst, geht bitte sofort wieder.

Freundin 4

Als ich Kind war: Trauma. Alle probieren, obwohl ich wusste ich hasse es. Mit Tränen. Sitzen bleiben, bis alle fertig waren oder ich irgendwas gegessen hatte, obwohl ich nicht wollte. Regeln kamen aber von der Deutschen Mutter. Keine Ahnung, wie mein Vater dazu stand. Er hat oft vor dem Fernseher mit klapptisch gegessen
Heute: ess oder stör zumindest nicht. Ich esse sogar oft nicht mit. Wenn kamil dabei sitzen kann, bin ich oft auch nicht sichtbar. Die Kinder entscheiden, wann sie satt sind. Wenn Sie fertig sind bringen Sie die Teller weg, waschen Hände und spielen so, dass wir weiter essen können.
Hm. Was noch? Die fressen den ganzen Tag. Wenn Sie nicht völlig ausgehungert sind essen sie eh nicht den vollen Teller auf. So what. Warum ist der Lernprozess, dass sie sich anpassen müssen und nicht, dass sich auch das gegenüber anpasst. Das ist Inklusion und Kompromissbereitschaft. Jeder geht auf den anderen ein.
Alles andere ist Adultismus vom Feinsten.

Freundin 5

Ich versuche tatsächlich, die Kinder so lang wie möglich am Tisch zu halten, damit sie noch irgendwie, irgendwas essen, aber meine Frau (mit MH) ist da viel offener. Und ich inzwischen auch. Choose your battles! Wir setzen uns zumindest alle zusammen hin. Das ist echt das Minimum. Wir starten Essen zusammen und essen dann unterschiedlich lang. Manchmal essen die Kinder länger als wir, manchmal nicht. Teller wegbringen und Hände waschen, das sind die Basics, die dann aber nach dem Aufstehen passieren müssen. Wenn die dann danach friedlich in ihren Zimmern spielen, dann bleiben wir auch zu zweit sitzen. Wenn andere noch da sind, dann bleiben wir alle noch länger sitzen.

Freund 1

Für mich das Wichtigste: sich bedanken nach dem Essen. Das höre ich nämlich von deutschen Kindern nie nach dem Essen.

Freundin 6

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