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Wie man aus der Leseflaute wieder raus kommt

Ich dachte mir, mich wird es nie treffen. Niemals werde ich eine Leseflaute durchleben müssen, ich doch nicht! Die Vielleserin, die passionierte, über-ambitionierte Parallel-Leserin! Die von guten Büchern sprechen kann wie andere von guten Liebhabern! Aber, das hohe Ross wirft auch Lesende ab. Und so befand ich mich irgendwann im Frühjahr letzten Jahres in meinem x-ten Zug auf dem Weg zur x-ten Lesung, um danach im x-ten Hotel zu schlafen. Mit dem gleichen Buch, seit drei Monaten. Nämlich meinem eigenen. Aus dem las ich Abend für Abend und fand in der Zwischenzeit keinen Zugang zu einem anderen Roman. 

Nun ist uns natürlich allen klar, dass das ein sehr spezielles Problem darstellt, aber ich möchte sagen, dass ich zunehmend Zuschriften erhielt, die mir versicherten, mein Buch hätte sie aus ihrer Leseflaute gebracht. Ich fühlte mich geehrte, wusste aber irgendwie auch nicht genau, worüber sie sprachen. Lese-was?

Leseflauten scheinen weitverbreitet. Doch irgendwann wurde es mir schlagartig klar: auch ich war mittendrin. Ich hatte seit Monaten nicht mehr zum Spaß gelesen. Mein Kopf war nicht fähig, mich auf ein Buch einzulassen, also brauchte ich Hilfe. Während auf Instagram Lieblingsbücher und Empfehlungen gerne mal judgy-judgy betrachtet werden, kenne ich den einen Ort, an dem mir ernsthaft geholfen wird, das nächste gute Buch zu finden. 

Mein Tipp: persönliche Beratung

Für mich persönlich ist das die Englischabteilung vom Dussmann Kulturkaufhaus. GLORIOUS! Die ernsthaft beste Beratung, die ich in meinem Leben jemals erfahren habe. Die extrem nette Dame mit dem Kurzhaarschnitt fragte mich direkt, welche Richtung ich mag. Fucking crazy war meine Antwort. Mit den gleichen Twists und Turns wie bei Ich, Eleanor Oliphant, der Geschwindigkeit von Celeste Ng und der Intelligenz von Chimamanda Ngozi Adichie. Ich sage gib mir Queerness, gib mir Migrant Stories, gib mir Flavor, aber bloß keine dreiseitige Beschreibung vom Morgenlicht. Vertraut der Beratung, vielleicht wird euch etwas vorgeschlagen, was euch sonst nie aufgefallen wäre.

Sie wusste sofort, was zu tun war, schien jedes Buch in ihrer Abteilung gelesen zu haben und stellte mir direkt fünf neue Bücher vor, die ich alle kaufte und zu Hause in mein Regal stellte. Zwischen Rezensionsexemplaren und Büchern, die auch schon seit Langem warteten, gelesen zu werden, habe ich sie schlichtweg vergessen. Bis zu dem Moment, in dem ich mir dachte, dass ich vielleicht wirklich einfach mal die vom Profi ausgesuchten Bücher probieren muss, um aus meiner Flaute zu kommen. 

Tränen im Asia Markt – Michelle Zauner

Ich begann mit Tränen im Asia Markt von Michelle Zauner. Es dauerte eine Weile, bis ich drin war, aber gerade die Beschreibungen des Essens und der Rituale, die damit einhergehen, erinnerten mich an meine Kindheit und die Besuche in unserem H-Mart, dem Mix Markt. Zauner schreibt über die Krebserkrankung ihrer Mutter und über ihren Tod. Es ist so traurig und so schlimm, dass ich seitenweise wirklich geflennt habe. Der Bann war gebrochen, ich wollte wieder.

Olga Dies Dreaming – Xochitl Gonzalez

Dann ging es weiter mit Olga Dies Dreaming von Xochitl Gonzalez. Ich habe dieses Buch so oft empfohlen und selbst verschenkt, dass es eigentlich mein halber Freundeskreis gelesen haben müsste. Es geht um Olga, kinderloser Single, es geht um Puerto Rico, postkoloniale Politik, um Gentrifizierung und um Trump. Um Identität und Queerness und wer wem eigentlich aufzwingen kann, sich zu outen. Die große Kinderwunsch-Frage wird diskutiert, aber auf eine angenehme Art und Weise, sowie Liebe und Bestimmung. Es schaffen zu wollen, als Migra Kind und auch Anerkennung zu erhalten. Alles dabei. Liest sich wie ein spannender Thriller und sollte unbedingt verfilmt werden. 

Dinge, an die wir nicht glauben – Bryan Washington

Dinge, an die wir nicht glauben von Bryan Washington wurde mir ebenfalls von der extrem kompetenten Dussmann-Verkäuferin empfohlen. Es geht um Bens und Mikes Beziehung, aber auch um Eltern-Kind-Beziehungen. Mike fliegt nach Japan, um dort seinen sterbenden Vater zu besuchen und auch zu pflegen, derweil ist seine Mutter aber bei Ben in deren Wohnung. Ben ist ein Schwarzer Kindergärtner, der seine ganz eigenen Probleme hat. Mitsuko, Mikes Mutter und Ben müssen lernen, miteinander klarzukommen, was nicht einfach ist. Großartiges Buch über Familie und Liebe. 

Joan is okay – Weike Wang

Und natürlich Joan is okay von Weike Wang. Wow. Die Pandemie bahnt sich in dem Buch an und doch überrascht sie alle. Joan ist natürlich nicht okay, sie arbeitet als Ärztin krass zu viel, sozial hat sie auch nicht viel mehr drauf und auch hier geht es um Identität und Migra-Kid-Ambitionen. Wundervolle Beschreibungen ihrer weißen Kolleg*innen, by the way. Genau mein Humor. „A witty, moving, piercingly insightful new novel about a marvelously complicated woman who can t be anyone but herself.“ Ja, genau das.

Such a Fun Age – Kiley Reid

Such A Fun Age von Kiley Reid ist extrem spannend. Aber auch böse gut, in jede Richtung und so klug! Ich habe dieses Buch GELIEBT und seitdem zig mal empfohlen und verliehen. Hier geht es um eine weiße Familie, um eine Schwarze Babysitterin, um Privilegien, Mutterschaft und ein virales Video. Mehr verrate ich nicht. 

Wieder mit dem Lesen anfangen, kann schwierig sein

Ich kann euch natürlich nicht sagen, wie man am besten wieder mit dem Lesen anfängt, denn hier ist es am Ende sicherlich sehr individuell. Manche lesen am liebsten in der Tram oder im Café, andere, wie ich, lesen fast nur Abends im Bett. Wenn man dann über Wochen und Monate kranke Kinder zu pflegen hatte, selbst krank war, zu viele gute Serien laufen oder schlichtweg keine Lust hatte, dann wird es schwierig.

Ich weiß, dass ich keine Sachbücher mag. Manchmal kann ich mich noch für ein Thema interessieren, aber das wundervoll geschriebenste Sachbuch erinnert mich dennoch an Uni oder Schule. Ich brauche Drama und Geschichten. In meinem (beruflichen) Alltag habe ich genügend Fakten.

Noch mehr Tipps aus der Leseflaute raus

Was aber auf jeden Fall hilft, so sehr es auch wehtun könnte: Handy weg. Aus dem Raum raus, in eine Schublade rein, auf Flugzeugmodus. Einfach weg damit. 

Da Bücher natürlich auch viel Geld kosten, könnte man zunächst einmal in eine Bücherei gehen und einfach wild drauflos ausleihen, auch mal in eine Ecke gehen, in der man sonst nicht schaut. 

Oder auf den Flohmarkt gehen und wirklich mal völlig unbekannte Bücher mitnehmen. Vielleicht auch mal was Leichteres? Wir müssen doch nicht jedes Mal den nächsten Pulitzer lesen. Einfach eine nette Geschichte, um wieder in den Flow zu kommen. Das habe ich letztes Jahr auch mit dem Brautkleid aus Warschau von Lot Vekeman geschafft. Ich habe es in einem Laden in Lübeck mitgenommen, in dem so gut wie alle Bücher 1€ gekostet haben und war begeistert. 

Rezensionen ignorieren bzw. mindestens drei verschiedene lesen. Die haben vielleicht ganz andere Ansprüche als du sie hast. Denk immer dran, die lesen und bewerten als Beruf. Du möchtest vielleicht einfach nur eine gute Geschichte lesen. Für mich gilt das Gleiche mit dem Buchpreis. Sorry, aber je gehypter das Buch im Feuilleton wird, desto mehr bin ich mir sicher, dass es mir zu langweilig, langatmig und intellektuell sein wird. Ich brauche ja wie gesagt Action und Flavor. 

Dem eigenen Geschmack vertrauen, aber auch mal was ganz anderes ausprobieren, das kann auch ein super kommerzieller, mega erfolgreicher Bestseller sein. Geht mal in eine neue Richtung, probiert einen Krimi aus, wenn ihr sonst nur Liebesromane mögt, oder einen ganz neuen Verlag?

Verfilmungen vertrauen. Dafür aber unbedingt mal erst den Film oder die Serie gucken, dann das Buch lesen? Vielleicht etwas ungewöhnlich, aber manchen hilft es vielleicht, einfach mal abzutauchen in etwas, das man schon kennt. Aktuelles Beispiel wäre die grandiose Fleishman is in Trouble, die auf einem richtig, richtig gefeierten Buch basiert. Das lese ich als nächstes! Oder ihr fangt an mit Women Talking von Miriam Toews, gerade erst für den Oscar nominiert! Oder Maid von Stephanie Land, eine ebenfalls großartige Serie.

Der Reese Witherspoon Buchklub hat sehr gute Tipps, Oprah meistens auch, Barack Obama sowieso, und um diese Aufzählung komplett zu machen: auch Ninia LaGrande hat Ahnung von gut erzählter Literatur. Sie hat mir beispielsweise Wirklich nett von Marcy Dermansky empfohlen. Und Marlene Hellene, die auch ausschließlich unterhaltsame Bücher liest und Vielleserin ist, hat mir Fremde Freundin von J. Courtney Sullivan empfohlen. Vertraut also coolen Leuten.

Manchmal hilft es auch, ein Buch zu lesen, das man schon mal gelesen hat und mochte. Vielleicht wisst ihr gar nicht mehr, wie es ausgeht? Wisst aber, dass ihr es geliebt habt? Ich weiß, dass meine Sichtweise auf Filme, Serien und Literatur sich sehr geändert hat. Als Mutter von zwei Kindern Mitte 30 finde ich vielleicht manche Sachen nicht mehr so cool wie die 20-jährige Studentin ohne Kinder?

Generell würde ich sogar sagen, lest lieber Backlist als Neuerscheinungen. Das nimmt auch den Druck raus. Ihr könnt ja mal schauen, welche Bücher in anderen Ländern in den letzten Jahren erfolgreich waren, vielleicht wurden sie inzwischen übersetzt? Fragt verschiedene Leute nach ihren Tipps. Nicht nur die beste Freundin. Fragt doch mal eure Zahnärztin oder den Nachbarn.

Lesen muss nicht prätentiös sein. Ihr liebt Fantasy? Fantastisch! Ihr liebt Anwaltromane mit einem kinky Chef? Super! Euch machen super langweilige Sachbücher über super ernste Themen richtig an? Hammer! Ihr hasst klassisches Lesen, hört lieber Hörbücher? Wie schön! Was ihr aber nicht machen solltet: lesen, was alle lesen, und euch dann wundern, warum ihr anfangt, nicht mehr so gerne zu lesen. Lesen sollte Spaß machen. Egal, was euch Spaß bereitet.

Aber wie gesagt, am besten geht ihr zu den Profis, die können euch beraten. Ich gehe immer gerne zu Dussmann. Ich mag die Atmosphäre und weiß, dass ich da gut beraten werde. 

Fragt doch mal eure Leute, welche Buch sie mal an einem Wochenende durchgelesen haben? Und dann, das ist der ultimative Tipp: bucht euch für eine Nacht im Hotel ein, nur um zu lesen. Und zu essen. Essen, lesen, schlafen. Natürlich nur, wenn das Buch nicht zu spannend ist. 

Noch mehr Bücher, die ich super finde

This will be funny later – Jenny Pentland
Ja, das ist die Tochter von der Roseanne. Aber auch richtig spannend, wer sich für 80er/90er Diet Culture, Umerziehungscamps und komplizierte Eltern-Kind-Beziehungen interessiert.

Beschreibung einer Krabbenwanderung – Karosh Taha
Für mich der schönste Roman über ein Hochhaus und ich habe mich in den Worten sehr zu Hause gefühlt.

Ruhm für eine Nacht – Calla Henkel
Ich durfte Calla interviewen, mit ihr feiern und mich etwas verlieben. Grandioses Buch. Berlin, Drogen, Kunst, Thriller.

Dschinns – Fatma Ayedemir
Es ist genauso toll wie alle sagen.

Nullerjahre – Hendrik Bolz
Es ist hart, aber genauso toll wie alle sagen.

Was ich euch nicht erzählte – Celeste Ng
Perfektion.

Wo auch immer ihr seid – Khuê Phåm
Spannend, wichtig und gut. Hier geht es zum Interview mit der Autorin.

Muttermilch – Melissa Broder
Für sehr gute Sexszenen.

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