Hauptstadtmutti

Cancel Culture und Mirna Funk

Früher, da hab ich mal Artikel aus der Wut heraus geschrieben. Reinigend war das. Was hab ich das von der Seele Schreiben geliebt. Inzwischen lass ich das lieber bleiben, denn die Shitstorms sind unübersichtlich geworden und es macht keinen Spaß mehr. Viele könnten jetzt denken, ja aber dann schreib doch nichts Unproblematisches, dann kriegst du auch keinen Shitstorm. Haha. Ich lass meine Wut inzwischen beim Kärchern oder Efeuwurzelnrausreißen raus.

Früher, da hab ich Meinungsstücke geschrieben, die haben gesessen, die waren in your face und ich lese sie jetzt manchmal, und denke mir huch, so hab ich das empfunden in dem Moment? Krass. Aber so war das damals, mit dem ersten Kind, als es noch ein Baby war.

 

Früher, da war gar nichts unbedingt und per se besser. Wenn das hier jetzt jemand liest und denkt, ich möchte darauf hinaus, dass man früher ja noch racial oder ableist slurs benutzen durfte, dann seid ihr hier falsch. Darum geht es nicht.

 

Heute lernen wir permanent dazu, was wir noch vor einem Jahr als voll inklusiv bezeichnet hätten, wird heute als ableist bezeichnet. Dann googlen wir ableism. Wir googlen white privilege, white tears, white fragility, saviorism, microaggressions und noch viel wichtiger: wir lernen zuzuhören. Wir wollen lernen, denen zuzuhören, die diskriminiert werden. Durch fehlende Gelder, Anerkennung und durch diskriminierende Sprache, Hetze und Aktionen.

 

Wir reflektieren und überlegen uns: Fuck, bin ich transfeindlich, weil ich Väter schreibe und Mann mit Penis meine? Habe ich gerade auf dem Schirm, dass natürlich auch Männer mit Vaginas, Augenblick, Vulvas, Väter sein können? Muss ich das extra erwähnen? Muss ich auch unter meinen Instagram Post über meine Freundinnen Freund*innen schreiben, auch wenn ich die drei Frauen meine? Es rattert und rattert bei vielen und das ist gut so. Journalist*innen geben sich endlich mal Mühe, Texte zu schreiben, die nicht sofort als rassistisch, antisemitisch oder sexistisch erkannt werden können. Oder behindertenfeindlich! Genau, oder behindertenfeindlich!

 

Wer sind wir denn?

 

Wir können weiß sein, vielleicht kennen wir Armut nicht, wir können ablebodied sein, wir können cis sein, wir können keinen Migrationshintergrund haben, und vielleicht gehören wir einer Religion an, die voll beliebt ist, weltweit. Und wenn wir wen heiraten wollen, ist es meistens eine Formsache. Wir können westdeutsch geprägt sein, und das Patriarchat und den Kapitalismus anprangern, aber gleichzeitig ‚Fremdbetreuung‘ als Wort benutzen.

 

Ich lese hier jedes Wort gerade, werde dieses Meinungsstück an zig Menschen aus dem Biz schicken, und nachfragen, ist das ok so? Nicht: findest du das gut, sondern, glaubst du, sie werden mich zerreißen, werden mich zerfleischen, werden mich zitieren, mich fehlinterpretieren, ist es das wert? Weil ich Angst habe! Weil inzwischen für Menschen, die egal wie in der Öffentlichkeit stehen, die Gefahr lauert, gecancelt zu werden. Dafür muss ich nicht mal das N-Wort benutzen, ich muss keine Kinder klauen, ich muss nicht ins Eis spucken, ich muss kein Hakenkreuztattoo haben, ich muss nicht mal wen vergewaltigen oder sexuell belästigen. Es reicht, wenn ich was schreibe, was meine Privilegien nicht unter absolut jedem Aspekt berücksichtigt.

 

Rassismus tötet. Toxische Maskulinität tötet. Feminismus muss intersektional sein. Das Land muss barrierefrei sein und weg mit Paragraf 218 & 219. Vegan wäre besser, vegetarisch bringt nichts, denn die Milchindustrie ist ja eigentlich noch schlimmer. Wenn du dir unverpackt nicht leisten kannst, dann musst du halt anders priorisieren. Wir sollten wählen gehen, wir sollen uns informieren, wir sollen jeden Code scannen, bevor wir etwas kaufen, und wenn wir rausfinden, dass die Knusperkekse aus dem Bio Supermarkt mal von jemandem entwickelt wurden, der gegen das Impfen ist, dann frisst das Kind halt ab sofort die Zuckerdinger aus dem Supermarkt, aber das ist ja dann Nestlé. All das ist wichtig. All das ist viel, manchmal zu viel, um es immer alles, zu jedem Zeitpunkt im Kopf zu haben.

 

Ich habe mal über die Beschissenheit von Online Kommentaren geschrieben. War so ziemlich das letzte Mal, wo ich hier richtig meine Meinung gesagt habe. Jetzt fällt mir ein, auf Edition F, da war mal eine einzige Leserin, die mochte das nicht, wenn ich fluche, seitdem hab ich die Olle immer im Kopp. Verrückt, oder? Nee verrückt sagt man nicht, also bescheuert! ICH! Ich bin bescheuert!

 

Die Trolle haben mich nie gestört. Die sind einfach zu ignorieren, denn sie sind nicht echt, also klar sind die echt, aber nicht so echt wie die Frauen mit 1500-4000 Followern, regelmäßigen Beiträgen und die mir durch Emojis mitteilen, wie viele Kinder sie haben und ob sie an Jesus glauben. Jetzt betreib ich momshaming, guck, ich weiß schon was kommt.

 

Das sind richtig echte Frauen, die irgendwann, vor ein paar Jahren, mal ‚Instagram‘ ausprobieren wollten und schwupps, durch das Teilen einer Story, durch das Screenshotten eines Kommentars oder durch das Melden eines Accounts zu Aktivistinnen werden. Das geht schnell. Da ist ein Video, von einer Frau, die hardcore rassistisch jemanden beleidigt und daraufhin ihren Job verliert. Das teil ich, das geht nicht. Da ist ein Bild, von einem LGBTIQ Pärchen mit Kind, das ist doch wunderschön, das unterstütze ich, das like ich. Habe den Text aber nicht gelesen und mitgekriegt, dass sie Werbung für Abnehmtee machen. Augenblick, das muss ich wieder entliken, denn wenn ich in zwei Monaten auf einem Podium für Body Positivity sitze, dann findet die Moderatorin diesen Like und dann muss ich mich erklären. Da ist eine Grafik über die Vorteile vom Stillen, unter anderem, dass die Kinder davon klüger werden. Das kann ich nicht teilen, das weiß ich, dass die Statistik gefälscht ist, denn die Kinder werden vom Stillen nicht per se klüger, turns out, die besser gebildeten Mütter wissen, dass Stillen gut ist, deshalb stillen sie eher und länger und deshalb sind die gestillten Kinder später eher die mit Abi, die studieren gehen, weil Gymnasiasten in Deutschland Gymnasiasten Kinder bekommen.

 

Bin ich auch so eine? Weiß nicht. Twitter war mir immer zu viel. Instagram fand ich mal geil, und für TikTok bin ich zu alt. Inzwischen mache ich das so: 90% der Menschen, denen ich folge, und ihnen folgen möchte, sind bei mir stummgeschaltet, weil ich das gar nicht aushalte, permanent mit ihrem Content konfrontiert zu werden. Ich blockiere Men…, äh, Accounts, ich blockiere Accounts.

 

Jetzt werden Aufrufe verschickt, von wildfremden Menschen, die analysieren, wem wir folgen, und uns daraufhin empfehlen, naja, auffordern, gewissen Menschen zu entfolgen, aber sofort. Es wird tone policing und whataboutism gegenüber Individuen betrieben, keine zwei Stunden nachdem eine Kachel geteilt wurde, dass man Black Lives Matter nicht tone policen darf.

 

Das System wird angeprangert, indem man Einzelpersonen als gecanceled erklärt, die man scheiße findet. Ich kann Accounts, Posts, von mir aus auch Einzelworte scheiße finden, ist mein Recht, ich kann auch kritisieren, dass jemand seinen Kommentar löscht, ich kann erklären, was mir an einem Post nicht gefällt, und ich kann scheiße finden, wie jemand damit umgeht, wenn er oder sie kritisiert wird.

 

Cancel Culture is so 2019

 

In den letzten Jahren haben wir viele Menschen gecancelt, z.B. R.Kelly, das war einfach. Wir haben Unternehmen boykottiert und anstatt bei Chic-Fil-A einfach bei Burger King gegessen und sind krass politisch gewesen in dem Moment. Erhaben konnten wir uns fühlen. Chef von Soul Cycle unterstützt Trump? Cancel! Wenn mir meine gesamte Blase sagt, der oder die geht gar nicht mehr, dann habe ich zu hören, korrekt? So läuft das jetzt? Entfolgen, Posten, Teilen, Kommentieren, Melden, Blockieren, Boykottieren, und zwar ohne auch nur 24h inne zu halten, und nachzudenken?

 

2020 fickt uns alle. Hart. Aber worauf wir uns eigentlich geeinigt hatten, war, dass wir uns weiterbilden wollten. Alle. Dazulernen ist Bildungsarbeit. Wissenschaftliche Begriffe zu kennen ist Bildungsarbeit. Nuancen zu erkennen und aktiv richtig anzuwenden erfordert Bildungsarbeit. Das wird nicht immer funktionieren. Auch die Menschen, denen wir etwas erklären, werden nicht immer so reagieren, wie wir das gerne hätten. Es gibt die Möglichkeit, Dinge stehen zu lassen, wenn man einmal darauf reagiert hat, für alle Seiten.

 

Liebe Grüße, der Mob

 

Am Donnerstag war ich im Urlaub, auf einer Insel, hab kurz durch Instagram gescrolled, was geliked, was ich ok fand, es in meiner Story geteilt, weil ich fand, dass es teilenswert wäre, insofern, dass es mal ein anderer Blick auf eine Diskussion ist. Am Freitag war ich heiser, vor Sprachnachrichten, Diskussionen, Anrufen, und Facetime Calls mit Freunden in Amerika.

 

Tagelang habe ich mich ausgetauscht, gelesen, und versucht, zu verstehen, was da gerade passiert. Cancel Culture vom Feinsten. Manche Accounts sind still, was bedeutet das? Auf welcher Seite stehen die dann? Hast du gesehen, die hat das und das geliked, aber das und das auch und die folgen dem Account immer noch! Das ist jetzt die Social Media Realität: entweder oder. Es gibt kein dazwischen mehr, keine Faux Pas mehr, niemand darf mehr upfucken oder zum Thema Mutterschaft eine Meinung haben, die nicht sofort likeable, shareable, instaworthy ist.

 

Haben wir verlernt erst einmal ein paar Tage über etwas nachzudenken? Ich bin, wie gesagt, kein Fan von Online Kommentaren, ich finde sie wirklich unnötig. Noch unnötiger sind Diskussion durch und über Online Kommentare, aber wie gesagt, das habe ich ja schon erklärt.

 

Ich bin Fan von: demonstrieren gehen, Mails an Abgeordnete verschicken, vielfältige Kinderbücher kaufen, ausleihen, verschenken, spenden, offen über Geld, Gehälter und Vorschüsse sprechen, und: wenn man sich in einer ablebodied heteronormativen finanziell abgesicherten Partnerschaft mit Nachwuchs befindet, und man selbst die cis Frau ist, dass man mit dem cis Mann Aufgabenverteilungen definiert und diskutiert.

 

Eigentlich wollte ich ja meine Fresse zu dieser ganzen Thematik halten, und auf Beyoncé hören:

 

Don’t criticize somebody else for what they’re not doing. You be it. Be about it. Be about that action and go do it. Keep your eye on your intention. Don’t let it any outside distraction or your own insecurity stop you from your goals. Embrace that struggle. Surviving that struggle will strengthen you. This is a crucial time in our history and in your life. The Earth is ripping that bandaid off so we can really see our wounds, so we can acknowledge and nurture them. That’s when true healing begins. You can be that leader we all need, you can lead the movement that celebrates humanity. My prayer for you is that you invest in yourself and see the value of giving back and building your community the best way you can.

 

Ihre commencenment speech könnt ihr hier mit Untertiteln gucken, und hier nachlesen.

 

Und um jetzt nochmal die alte Elina rauszulassen:

 

Was zur Hölle geht eigentlich gerade ab? Das ist die Art und Weise, wie ihr mit einer Frau umgeht, die in einem Post erklärt, wieso sie ihr Kind als Wunder sieht? Den Holocaust erwähnt? Die jahrelang von euch gefeiert wurde für ihren Mut, ihre Eier, ihren Feminismus, ihre Offenheit?

 

Meine Fresse, ich fand es auch nicht geil, als sie das mit dem Botox erzählte, aber mein Gott, das hatte ja nichts und wieder nichts mit mir und meinem Leben zu tun. Da hätte man ihr auch alles Mögliche vorwerfen können, aber an dem Tag hatten vielleicht nicht die richtigen Leute Bock Cancel Culture zu spielen. Schon mal daran gedacht, dass es grundsätzlich die Möglichkeit gibt, solche Meinungsposts auch einfach zu ignorieren?

 

Wie viele Boxen einer Minderheit muss sie noch erfüllen? Das ist die Strafe? Karrieren zu zerstören und sie über Tage zum Scheiterhaufen zu tragen und dann zu verbrennen? So machen wir das, ja? Und was höre ich immer wieder? ‚Ich mochte die ja noch nie‘ und ‚überhaupt, die ist aber arrogant‘.

 

I’m not bossy, I’m a boss, das habt ihr alle geteilt, als es eure Lieblingsinfluencerin auf einem T-Shirt getragen hat, und euren Töchtern bringt ihr bei, ihre Meinung lautstark zu vertreten, aber in der Sekunde wo es eine Frau tut, und es passt aber nicht, dann wird sie was genau? Öffentlich verbrannt, wie früher? Was machen wir morgen? Ihr Buch verbrennen?

 

Was bewerten wir gerade? Den Post? Den Kommentar? Ihre Beleidigung gegenüber einer anderen Kommentierenden? Ihre Stille? Oder ihre Worte, die nicht richtig genug erklärt haben, wieso sie glaubt, dass sie nicht behindertenfeindlich ist?

 

Gibt es gerade keinen einzigen Mann, den wir mal so entschlossen und mit so einer Energie fertig machen könnten? Ich weiß nicht, einen Vergewaltiger? Holocaust Leugner? Wollen wir noch einmal über Hanau sprechen? Oder wollen wir darüber sprechen, wie es Frauen, die pflegen, oder in der Pflege arbeiten, wirklich geht? Wollen wir zur nächsten Parteisitzung in unserem Ort gehen, und sagen, dass wir bessere Bezahlung für Care Arbeit fordern? Wollen wir politisch aktiv werden und diesem ganzen verfickten Scheiß mal aktiv entgegensetzen?

Wo war eure Energie, als Mirna sich gegen das Ehegattensplitting eingesetzt hat?

 

Und wenn Instagram eure Plattform ist, wenn das die Möglichkeit ist, dass ihr politisch aktiv seid: MEGA! Macht weiter! Nutzt eure Plattform, informiert, lasst uns teilhaben, macht das, was ihr glaubt, was uns weiterhelfen würde, in unserem Kampf für mehr Gleichberechtigung, Teilhabe, und alles andere!

 

Aber wollen wir vielleicht mal aufhören uns aufzuführen, als wäre Mirna Funk der Grund, das Symptom oder die Erklärung dafür, dass wir in einer beschissenen Gesellschaft innerhalb eines beschissenen Systems leben.

 

Herrschaftszeiten nochmal. Wisst ihr was, cancelt mich bitte diese Woche, nächste Woche suchen wir dann eine Andere aus, wir werden schon wen finden!

 

PS: Ageism, ich hab Ageism vergessen.

 

 

Foto: Kai Senf

 

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