Hach, ich bin ehrlich, es kommen so viele Anfragen rein, dass ich manchmal den Überblick über potentielle Interviewpartnerinnen verliere. Doch, wie Verena Friederike Hasel schon sagt: Good enough reicht. Verena wollte ich schon lange vorstellen, die Fragen zum Interview gingen hin und her und dann sagte ich zu ihr, du lebst ja in Berlin, komm bitte bei unserer Lala-Lesung vorbei! Tat sie, und wie toll ist es bitte, Leute wieder persönlich kennenlernen zu dürfen. Deshalb möchte ich euch nicht nur viel Spaß mit dem Interview wünschen, sondern auch eine große Empfehlung aussprechen: Verena Friederike Hasel ist ein extrem sympathischer Mensch.
Liebe Verena, stell dich bitte vor.
Ich bin für manche Verena, für andere Friederike und für die drei wichtigsten Menschen in meinem Leben Mamchen, bin geboren im Jahr 1978 und Berlinerin. Das sage ich ganz bewusst, weil es für mich prägend war, hier aufzuwachsen – Berlin, die geteilte Stadt, durch die eine Mauer ging, Berlin, die Stadt, in der sich später das Wunderbarste ereignet hat, eine friedliche Revolution.
Ich weiß auch noch genau, wie ich eines Tages, die Mauer bröckelte immer mehr, mit einem Fuß im Westen und mit dem anderen im Osten stand und ein Brennen in der Brust hatte, weil ich, auch wenn ich erst elf Jahre war, absolut wusste, was das für ein besonderer Moment war. Ich bin also aufgewachsen mit einem daraus resultierenden politischen Optimismus, das dieser Tage auf eine harte Probe gestellt wird (was für ein politisches Lebensgefühl werden wohl meine Kinder haben?), Fukuyamas These vom Ende der Geschichte habe ich zwar erst viel später kennengelernt, aber muss sagen: Ja, ungefähr so habe ich es empfunden.
Aber ihr habt auch schon außerhalb von Berlin gelebt?
Einen Teil meines Herzens habe ich aber auch in Neuseeland, unserer Zweitheimat, wo wir bis Anfang 2022 gewohnt haben, meine drei Töchter sind eine Mischung aus echten Kiwimädchen, die am liebsten barfuß unterwegs sind und im Kajak weit aufs Meer rauspaddeln, und Berliner Großstadtpflanzen, die Klingelstreiche machen und es lieben, wenn sie abends mal mit in eine Bar gehen dürfen.
Nach der Schule habe ich ein Doppelstudium gemacht, Psychologie auf Diplom und außerdem Drehbuch an der Berliner Filmhochschule. Ein Drehbuch habe ich nach meinem Studium nicht wieder geschrieben, aber dafür fünf Bücher, sowohl Romane als auch Sachbücher, und glaube, dass ich das ohne die Dramaturgiekenntnisse, die mir in meinem Drehbuchstudium vermittelt wurden, nicht halb so gut hinbekommen hätte, außerdem arbeite ich als Journalistin für den Tagespiegel, die Zeit, und den Stern, und bin oft an Schulen unterwegs, weil eines meiner Bücher von meiner Vision für ein besseres Schulsystem handeln und diesen Traum ja auch etliche LehrerInnen träumen und ich alle liebend gern auf dem Weg dorthin unterstütze.
Wie sieht denn dein Alltag aus?
Bewegt. Kein Tag ist wie der andere, was an meiner Arbeit liegt: Wenn ich auf Recherche bin, bin ich sehr vom Terminplan anderer abhängig. Insofern müssen wir oft improvisieren, das ist manchmal bestimmt anstrengend für die Kinder, aber ich bringe immer viel von draußen aus der Welt mit, und ich glaube, das ist gut für sie. Sie haben auch immer viel vor, aber eine Konstante ist unsere Blaue Stunde. Sonntag Morgen versammeln wir uns im Bett und ich lese vor.
Und euer tägliches Leben als Großstadtfamilie?
Wir waren jetzt lange eine Dorffamilie, weil wir die letzten zwei Jahre in Neuseeland in einem Dorf am Meer gewohnt haben, insofern müssen wir uns ein bisschen neu erfinden als Großstadtfamilie. Ich muss gestehen, ich fürchte mich ein bisschen vor den Ausflügen in Wälder und Seen hier, weil ich dann das Grün und Blau Neuseelands wahnsinnig vermissen werde. Wir haben uns bisher darauf konzentriert, das zu genießen, was es eben wirklich nur hier gibt. Wir waren schon in der ersten Woche nach unserer Rückkehr in der Oper. Wir gehen viel in Konzerte, in Tanzaufführungen, in Ausstellungen, und mir ist es immer wichtig, dass wir helfen, gerade jetzt angesichts der Menschen, die aus der Ukraine zu uns kommen. Das macht für mich Berlin aus, nicht nur durch die geographische Nähe zu Osteuropa.
Hast du Tipps für andere Mütter, schwangere Menschen, Eltern allgemein, etc?
Oh ja. Mütter sollten dringend das Konzept der good enough mother verinnerlichen. Das stammt vom englischen Psychoanalytiker Donald Winnicott und ist mein Mantra. Eine Mutter muss nicht perfekt sein, es reicht, wenn sie good enough ist. Sehr wahr, sehr entlastend.
Ansonsten erlebe ich persönlich gerade, wie wichtig es ist, negative Gefühle von Kindern nicht wegzureden (Ach iwo, du musst dir doch keine Sorgen machen! Nein, mein Schatz, das solltest du nicht denken!), sondern ihnen Raum zu geben, auch wenn man selbst gern hätte, dass das Kind permanent glücklich ist.
Und der dritte Tipp: Praktiziert weder autoritäre Erziehung noch laissez faire, sondern findet die goldene Mitte, und das ist der autoritative Erziehungsstil.
Hat Corona euer Familienleben in den letzten Jahren beeinflusst?
Bei uns war das mit Corona etwas anders, da das Virus mit einiger Verspätung in Neuseeland ankam, dann aber mit voller Wucht. Wir waren gerade von einem Deutschlandbesuch zurück nach Neuseeland geflogen, hatten in Neuseeland zwei Wochen in einem Quarantänehotel verbracht, das von Soldaten bewacht wurde und in dem wir während dieser 14 Tage das Hotelzimmer kaum verlassen durften, freuten uns, da raus zu sein, und kurz darauf brach Corona in Neuseeland aus, und es folgte ein Lockdown, der länger als 100 Tage ging und hammerhart war.
Das war manchmal fürchterlich anstrengend aus den allseits bekannten Gründen und manchmal überraschend schön. Ich weiß noch, wie mein Mann draußen mit unseren drei Kindern saß und mit ihnen zeichnete (eine unserer Lockdownaktivitäten – jeden Tag Stuhl vor die Tür stellen und etwas aus der Natur zeichnen) und ich raus schaute und dachte: Mensch, habe ich ein Glück.
Nutzt du Social Media?
Ja, das tue ich und zwar gern! Ich weiß, es gehört inzwischen fast zum guten Ton, Facebook etc zu hassen, ich verstehe auch die Gründe, aber ich habe soziale Medien als wahnsinnig hilfreich empfunden. Im vergangenen Jahr haben wir einer Familie geholfen, Afghanistan zu verlassen, die Erfolgschancen waren erst verschwindend gering, am Ende ist es doch gelungen – und das auch dank Facebook. Ich habe da immer wieder Fragen gestellt (Wer kennt wen bei der Hilfsorganisation x, wer kennt wen im Ministerium y, wer kennt wen von der Botschaft z) und mir haben Leute geantwortet, mit denen ich gar nicht unbedingt engen Kontakt hatte – insofern wäre ich nie auf die Idee gekommen, sie um Hilfe zu bitten.
Zum Schreiben benutze ich aber wie viele Autorinnen Freedom, eine App, die das Internet für eine bestimmte, vorher festgelegte Zeitspanne blockiert. Damit sind, während ich schreibe, auch Emails blockiert, und ankommende Emails empfinde ich immer als große Störenfriede, weil ich aus irgendeinem Grund oft denke, ich müsse sofort antworten, und dann erst wieder zurück in mein Buch finden muss.
Worum geht es in deinem Buch?
Die Idee zu dem Buch kam mir, als ich bei einer Recherche für einen Artikel die wunderbare Geschichte über Joshua Bell las, den berühmten Geiger, der die Konzertsäle dieser Welt füllte und der eines Tages mit Baseballkappe auf dem Kopf auf einem U- Bahnhof spielte, unerkannt, so als sei er Straßenmusikant. Er spielte wunderschöne Stücke, darunter die Chaconne von Bach, und wollte wissen, ob Menschen seiner Musik auch zuhören würden, wenn sie nicht wüssten, wer er ist, ihn bewegte also die Frage, ob wir Menschen Schönheit auch erkennen, wenn wir nicht erwarten, ihr zu begegnen.
Ich verrate hier nun nicht, wie die Geschichte ausging, aber man kann viel von ihr lernen, und als ich sie las, dachte ich genau das: Davon kann man eine Menge lernen. Wie wäre es, wenn man das für Kinder aufschreibt und mit einem Arbeitsauftrag verknüpft (in meinem Buch ist das der Auftrag ein leeres Marmeladenglas mit schönen Momenten zu füllen, gerade den unerwarteten, und sich aus diesem Vorrat zu bedienen, wenn das Leben gerade nicht nach Marmelade schmeckt)? Wie wäre es, wenn man viele solcher Geschichten sammelt und daraus ein Buch macht, das Kinder und Heranwachsende durch ein ganzes Jahr begleitet und ihre emotionale und soziale Entwicklung unterstützt, Eigenschaften wie Phantasie, Empathie, Selbstbewusstsein, Mut fördert und all das, was sie im 21. Jahrhundert vielleicht mehr denn je brauchen werden?
So ist dieses Buch entstanden, es heißt „Eine Linie ist ein Punkt, der spazieren geht“, der Untertitel ist auch nicht ganz unwichtig („Alles, was du in der Schule nicht lernst“) und es ist ein Mitmachbuch, weil ich es liebe, wenn man in Bücher reinschreiben darf.
Der Schreibprozess dauerte länger als gedacht, weil ich ja erst einmal all die Geschichten finden musste (das Buch hat in etwa so viele Kapitel wie ein Jahr Wochen hat). Es war aber eine wunderbare Recherche, weil ich ja ganz gezielt nach dem Guten suchte (zum Beispiel hat eine Frau, die als Astronautin im All unterwegs war, ihren Job aufgegeben, weil sie dort oben im All die Schönheit der Erde begriffen hat. Nun ist sie Malerin. Auch diese Geschichte liebe ich. Und ich habe mit einer Frau gesprochen, deren Beruf es ist, alte Gerüche zu konservieren. Insofern waren diese Recherchewochen wirklich eine Aneinanderreihung von besonderen Momenten.) Und es war auch deshalb eine tolle Zeit, weil ich eng mit der grossartigen französischen Illustratorin Alice Mollon zusammengearbeitet habe, und es als sonst einsam Schreibende wunderbar fand, dass da jemand ist, der das Buch so gut kennt wie ich selbst.
Und für wen ist dein Buch?
Für Kinder zwischen acht und 14. Aber es haben mir viele Erwachsene geschrieben, dass sie es auch gern lesen. Vielleicht also ein Familienbuch.
Danke, liebe Verena!
Verena Friederike Hasel – Eine Linie ist ein Punkt, der spazieren geht. Alles, was du in der Schule nicht lernst / Illustrator: Alice Mollon / broschiert / 224 Seiten / ISBN: 978-3-0369-5867-5 / 22. Februar 2022 / 23,00 EUR
Fotos: Kai Senf