Hauptstadtmutti

Migrantenmutti: Sackkleid

In dem Restaurant, in dem ich mal gearbeitet habe, hatte die Belegschaft fast ausschließlich einen Post-Ost-Hintergrund. Wir tranken viel, wir gingen viel aus, wir genossen den Moment nach einer anstrengenden Schicht, wenn wir aus der verschwitzten schwarzen Bluse und der schwarzen langen Hose raus- und rein ins Afterhour Outfit konnten. Befreiend war das. ‚Da kommt Oma!‘ hieß es dann immer mal wieder in meine Richtung. Meine Party Ensembles waren nicht kurz genug, nicht tief ausgeschnitten genug, glitzerten zu wenig. Ich war die Oma in unserer Party Crew. 

Keine Sorge, auch in einer Strickjacke sah mein 20-jähriges Selbst fantastisch aus. Das bestätigten mir meine deutschen Freundinnen auf eine indirekte Art und Weise, denn meine Schuhe waren ihnen oft zu hoch, meine Ausschnitte dann doch zu tief und mein Make-Up zu intensiv. Goldlöckchen fand einfach nicht den richtigen Brei, das richtige Bett…ich stand zwischen ‚Wieso schminkst du dich nicht mal mehr?‘ und ‚Wieso bist du so aufgetakelt?‘

2000er sind zurück. Puh.

Ich liebe die Mock-Videos über Styles von 2003-2014 und finde mich in fast jedem Mousse Make Up, weißem Gürtel und Von Dutch Verriss wieder. Hach ja, jeden Trend mitgemacht und alles gefeiert. Ich war mir nicht zu schade für Trends, die jetzt rückblickend ganz klar auf einen Zeitraum hinweisen. Bereuen tu ich nichts davon, schließlich war Blair Waldorf die meiste Zeit mein Stilvorbild. Was könnte schief gehen?

Was mir allerdings weder in der schönsten Stadt Deutschlands, also Regensburg, noch in Washington, D.C. oder Hamburg begegnete, war ein sehr distinktes Berlin Phänomen: Das sogenannte Sackkleid. Ihr kennt es vielleicht vom Strand, in Berlin Mitte gerne auch Egg Shape oder neuerdings dank irgendwelcher Datschen Fantasien Milkmaid Kleider. Als Russlanddeutsche kriege ich bei dem Wort eher süße Kondensmilch per Brainfunction auf die Zunge, aber es ist ein Fashion Trend, glaubt mir. 

Eins will ich vorab klarstellen: Bequemlichkeit und sich wohlfühlen, in dem, was man trägt, sollte grundsätzlich oberste Priorität haben, immer. That part I am not judging. (Aber judgen we shall.) Mit ein Grund, warum ihr mich grundsätzlich nur in Jogginganzügen auf Lesereise treffen werdet. Es könnte mir ja auch einfach egal sein, wie sich Menschen kleiden, solange es ihnen gut dabei geht. Doch, und hier stelle ich eine steile These auf, mit der ich auch extrem schnell auf die Fresse fliegen könnte: ich kaufe es der durchschnittlichen Person in einem Sackkleid nicht ab, dass sie sich wohlfühlt. Warum? Ich sag ja, ich könnte falsch liegen, aber da steckt mehr dahinter. Und eines davon, ist dass man Teil eines ganz bestimmten Images sein möchte.

Sackkleid ist nicht gleich Sackkleid

Erinnert ihr euch an Unsere kleine Farm? Düdüm. Genau die Art von Sackkleid meine ich. Ob jetzt amerikanischer Pioniersdress oder Sinn & Sinnlichkeit Historiendrama, geschenkt. Geht in die gleiche Richtung, Hauptsache aus einer Szene, in der gerade Kartoffeln geschält wurden. Oder Gartenarbeit bei Downton Abbey. Das ist so ungefähr der Vibe. 

Und für genau dieses Never forget Laura Ingalls Kleid zahlt ihr dann 300€ aufwärts, geil wa. Nun gut, hochwertige Kleidung kostet Geld und wer es sich leisten kann, gönnt euch. Während also früher in Mitte alles in Grau, Beige und Schwarz in unförmigen Kasten-Oberteilen und Eggshape Kleidern rumlief, ist halb Prenzlberg nun knee deep in sweet Memory von Zeiten, in denen Typhus noch grassierte und Charles Ingalls der einzige Dilf around war. 

Wir leben also in einem Zeitalter, in dem das deutsche Kino rassistischen Dreck als Kinderfilm verkleidet rausbringt und Frauen mit ein bisschen Geld rumlaufen wie frisch vom Planwagen der Prärie einer Epoche, in der so gar nichts besser war für niemanden. Als Amerikanistin kann ich meine eigene Aussage bestätigen.

Berlin, mein Herz, Individualität als Uniform hatten wir doch hinter uns lassen wollen. Wir wollten uns wieder den Farben, den Schnitten, der Mode zuwenden, nicht nur dem, was eine Handvoll Frauen auf Instagram oder im Mauerpark tragen. Erinnert ihr euch nicht an das Meeting? Gen Z ist früher gegangen, als sie Fotos von uns damals gesehen haben und beschlossen hatten, dass sie das einfach reanimieren werden. 

Nur mit viel, viel, viel besserem Make Up. Ich werde immer stolz auf meine Gen Z Babes sein, das wisst ihr hoffentlich. Zurück zu den Sackkleid besessenen Millennials. Also ihr seid jetzt grad auch maximal 29 oder 38, oder irgendwas dazwischen und warum auch immer wollt ihr das Sackkleid nicht mehr abgeben. Ihr geht so weit, dass eure Kinder auch wie Präriekinder aussehen sollen. Die Lösung zu genderneutraler Kinderkleidung ist aber nicht die Requisite eines Stummfilms aus den 20ern zu plündern. An dieser Stelle Grüße an Marlene Hellene, die mir seit Jahren erklärt, wie sehr sie diesen Trend hasst. 

Sad beige Stummfilm children

Zusammen haben wir Tränen gelacht, als eine TikTokerin uns im Herbst 2021 die sad beige clothes for sad beige children mit der Stimme von Werner Herzog vorgestellt hat. Ganz ehrlich, ich muss nur dran denken und kriege schon wieder Lachattacken. Auch das Werner Herzog Bouncy Castle, filled with nothing, to remember the nothingness of existence, ist Comedy Perfektion. Nur für die Sad Beige Lady überlege ich, mir TikTok anzutun. Hach ja. Was haben wir gelacht. 

Inzwischen regen wir uns auf, weil wir eigentlich dachten, dass dieser ganze beige Pinterest Müll weg war und jetzt wieder Disko kommt. Erst dank Andrea Glass, dann natürlich dank Beyoncé. Ich habe euch das mal in meinem Spiegel Artikel, hust hust, zusammengefasst, warum. Warum was? Warum Beyoncé die geilste ist. 

Doch nichts mit Disko. Überall nur Prärie, Sackkleider und beige Kinder. Und Masern, die sind auch zurück. Viva la Prärie!

Dieser ganze Trend kostet natürlich richtig Geld und die Trägerinnen der Sackkleider und Mütter der sad beige children haben eines gemeinsam: keinen oberflächlich auf den ersten Blick erkennbaren Migrationshintergrund. Klar, kann ich jetzt hier behaupten und völlig falsch liegen, who knows, aber auf den ersten Blick, sind die Frauen, die ihr neugewonnenes Datschenleben mit ein bisschen Butterstampfen feiern wollen, alle vornehmlich weiß, deutsch, alman-y. 

Marlene und ich diskutieren hin und her. „Fehlt nur noch die Haube. Und ein Eselskarren.“ Wait a damn minute, HAUBEN?

„Ja klar,“ sagt Marlene. „Die setzen ihren Kindern Hauben auf, Elina.“ Ich kann nicht mehr. Natürlich wollte ich die Schlaghosen auch nicht zurück haben, und ob ich jetzt noch mal bauchfrei rumlaufen werde, weiß ich nicht, aber ist denn das Sackkleid meine einzige Alternative? Es schüttelt mich ja vor allen Dingen, weil es nicht nur Unsere kleine Farm schreit, sondern auch unser gelobtes Gilead. The Handmaid’s Tale wird gefühlt täglich realistischer für weiße Frauen bzw. White Feminists, deren Aufschrei nie das gesamte Bild sehen will und sich dann auch noch in Roben schwingen, die direkt aus Gilead stammen könnten, inklusive Haubenkinder, argh, ugh, puh.

(weiterlesen: The Handmaid’s Tale is not dystopian for black women – it’s real life)

Die kleine Farm als Statussymbol

„Wir sind Hippie-Öko-Reiche, sagt dieses Kleid, wir sind Gebildete, Kluge, Studierte, die selbst damals niemals Buffaloes angerührt hätten. Mit diesen Kleidern heben wir uns von Fake Nägeln, Wimpern und von Extensions ab.“

Marlene Hellene

So ergänzt Marlene ihre Analyse. Und klar, abheben kann man in einem Sackkleid sicherlich gut, fehlt nur ein bisschen Gas. Düdüm. 

Das ist einfach die Gegenbewegung dagegen, dass die Teenies jetzt so rumlaufen, wie ich früher als Teenie. Jetzt ist wieder Paris Hilton Style, und die halten dagegen. Die wollen nicht billig sein, sondern richtig teuer und klug. Es ist Naturkosmetik gegen Drogerie. Es ist Stillen ist Liebe. Es ist ich habe Germanistik mit Master abgeschlossen. Es ist ich lese nur Feuilleton. Und ich stehe über Schönheitsidealen. Aber nur, weil ich sie nicht erfülle.

Marlene Hellene

Ich merke, die Sackkleid-Thematik scheint zu bewegen. Ich mag, wie bereits erwähnt, gemütliche Klamotten. Viele meiner Kleider haben Stretch oder sind so geschnitten, dass ich natürlich den ganzen Tag darin verbringen könnte. Und dennoch, die Anziehungskraft des Sackkleides versagt bei mir, vielleicht, weil sie mich teilweise an Quilts erinnern, mit denen wir uns bei besonders kalten Football Spielen auf den Bleachers gewärmt haben. Vielleicht, weil ich in meiner Jugend zu viele Reenactments des amerikanischen Bürgerkrieges gesehen habe oder auf einer Uni war, von einem Präsidenten gegründet, der versklavte Menschen nicht nur besessen, sondern auch vergewaltigt hat. Die Kleider triggern in mir Tagesausflüge nach Jamestown, Monticello und Mount Vernon. Oder Colonial Williamsburg. 

Ja, ich rümpfe mein kleines arrogantes Näschen und kann dem Prairie-Chic nichts abgewinnen. Vor allen Dingen, wenn sie mir Cliquenmäßig entgegen rauschen. Ich wollte auch mal dazugehören, zu den cool kids. Zu denen mit dem Dänemark-Urlaub, dem Volvo und den Spieleabenden. Die cool kids sind aber inzwischen zu judgy bitches herangereift, bei denen ich mich manchmal frage, ob die eigentlich noch Spaß im Leben haben. Die jungen Frauen, die mir erklärt haben, dass ich mit meinen Outfits selber Schuld haben werde, wenn mir mal was passiert. Dass ich doch nicht immer alles zeigen muss.

Ich kann aber, wenn ich will. Und ich will. Ich lass mich lieber als Oma bezeichnen, weil ich nicht genug Glitzer, Heels und Ausschnitt zeige, als dass ich mir ein Sackkleid anziehe. Meine Oma war nämlich extrem stylisch. 

Being stylish and being fashionable are two entirely different things. You can easily buy your way into being fashionable. Style I think is in your DNA. It implies originality and courage. And the worst that can happen when you take a risk is that you fail. And you don’t die from that.

Iris Apfel

Geht das Risiko ein, probiert was aus. Wir sind doch alle ständig auf dem Weg, unseren Style zu finden, uns neu zu erfinden, vielleicht. Probieren wir was aus und inspirieren wir uns mal wieder. Aber bevor ich 300€ oder mehr für ein neues Sackkleid mit Rüschen und Tischdeckenmuster ausgebe, geh ich lieber in den nächsten Secondhandladen und kriege das gleiche Ding für 10€ das Kilo.

Und wenn wir schon bei shaming, judiging und Klamottenwahl sind, zieht an was ihr wollt, Herrschaftszeiten, wenn ihr unbedingt wie ein wandelndes Kolonial-Skrotum aus dem vorletzten Jahrhundert rumlaufen wollt, who am I to judge.

Fuck shaming, stelle keine Frauen in‘ Schatten, damit ich schein‘
All die Bitches machen pretty Bitches gerne klein
Aber real bad Bitches lieben bad Bitches, weil
Ich kann das uh, nur ein kleiner Ratschlag
Kein Mann dieser Welt macht dich zum Star, Schatz

Shirin David

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